Sigrid Dobat

Tauben am Fenster und andere Geschichten


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das auch noch. Er will keinen Ärger haben, das Heimkino soll morgen eröffnet werden. Die Kinder haben Freunde eingeladen. Seiner Frau ist das wichtig. Irgendwie das auch noch.

      Manni. Er schaut an sich herunter, ist irritiert. So nicht, nein, so geht das nicht. Die Krawatte, denkt er, öffnet den Knoten und legt sie über die Lehne des Schreibtischstuhls. Er wird sie morgen wieder neu binden. Zögern, dann legt er die Krawatte wohl gefaltet in seine Aktenmappe. Für die Verhandlungen im Sonnwiek wird er sie brauchen. Auch die dunkelblaue Hose, das Sakko. Eine halbe Stunde noch. Erinnerung an Holzlatschen, Lederwesten, Parkas. Alle olivgrün, die Parkas. Jetzt dunkles Blau. Das ist nicht zu ändern so kurzfristig. Aber die Krawatte, wenigstens die Krawatte weg.

      Schlechte Parkmöglichkeiten in der Bergstraße, im Parkverbot stehen, das wird kosten, nicht zu ändern. Dann Manni, da ist er, immer noch Bart, immer noch Jeans.

      „Mensch Manni!“

      Manni steht auf, kommt auf ihn zu. Sie bleiben voreinander stehen, gehen etwas in die Knie, schlagen auf die Oberschenkel, richten sich wieder auf, Schlagen auf die Schultern. So war das, damals.

      „Unter den Talaren ist der Muff von 1000 Jahren!“ Manni brüllt, lacht, schlägt sich noch einmal auf die Schenkel.

      „Revolution statt Evolution“, Eberhard hat sich erinnert. Seine Stimme ist leiser als Mannis, aber es ist ihm eingefallen.

      „Mensch Eberhard! Warte, warte!“ Mannis Handfläche schlägt gegen seine Stirn, als würde der Schlag seine Erinnerungen lockern.

      „Wer zwei Mal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“

      Eberhard spürt etwas, fein wahrgenommen hat er in sich einen kleinen, winzigkleinen Stich. Und er spürt den Zugzwang. Jetzt ist er an der Reihe, er muss mithalten.

      Ein Spruch noch, wenigstens einer, und dann brüllt er: „Freie Liebe für alle!“, als wolle er diesen feinen Stich, den er eben noch gefühlt hat, mit hinausbrüllen, wegbrüllen.

      Eberhard sieht Manni lachen, sieht, wie er sich abermals auf die Schenkel schlägt, den Finger schnipsend zum Ober hebt, „zwei Bier!“ ruft. Und Eberhard spürt, dass er den feinen Stich nicht hinausgebrüllt hat. Vielmehr hat sich ein Raum in ihm geöffnet, der den feinen Stich wuchern lässt, ausweitet zu einem dumpfen Schmerz.

      Das Bier, er wird jetzt das Bier trinken, kühl wird es sein. Und das Gespräch beginnen, Kontrolle haben über das Gespräch und über sich.

      Er hört sich sagen: „Mensch Manni, was machst du jetzt so, erzähl mal.“ Und er wird Mannis Geschichte hören und wegen des Immobiliengeschäfts auf die Zeit achten. Und Bang und Olufsen auch. Und er wird seine eigene Geschichte erzählen, selektiv natürlich, das versteht er. Und nur das eine Bier trinken, Pfefferminz ist im Auto.

      Das Immobiliengeschäft lief gut, die Strategie war erfolgreich. Aber es hatte länger gedauert als erwartet. Bang und Olufsen hatte er am Abend telefonisch erledigt, schließlich kennt er den Geschäftsführer.

      Eberhard steht im Badezimmer. Sie schläft schon, er hört ihren Atem. Das Geräusch der Zahnbürste, automatisch. In seiner Schlafanzugtasche ein Taschentuch. Er wirft es in die Toilette und spült. Dysfunktion, erektile Dysfunktion wegen Stress, war vor Jahren diagnostiziert worden. Er hört den Atem seiner Frau nebenan.

      Und er blickt in den Badezimmerspiegel und in ein müdes Gesicht.

      Seinen Puls spürt er nicht.

      DIE GRÜNE WOLKE

      Fuß vor Fuß, irgendwo entlang, irgendwas entgegen. Mein Weg?

      Es ist anders gekommen.

      Ich werde meine Geschichte erzählen, die Geschichte meines Lebensweges. Der Weg war steil. Senkrechtstart, sagten meine Eltern nicht ohne Stolz. Sie behaupteten, daran nicht beteiligt gewesen zu sein, sie sagten, ich sei ohne sie gegangen, sie seien unten geblieben, am Beginn des steilen Weges, sahen mich hinaufsteigen. Es ist nicht leicht für sie gewesen, mich allein gehen zu lassen, mich höher und höher steigen zu sehen, werden sie später behaupten. Es ist unmöglich gewesen, mich zurückzuhalten, sagten sie später.

      Mag sein.

      Der Probenraum des Jugendzentrums im Dorf stand uns donnerstags zur Verfügung. Wattiert gepolsterte Wände, das Schlagzeug stand in der Ecke des Raumes, wir durften es benutzen. Hark benutzte es, Max und ich brachten unsere Instrumente mit, Max seinen Bass, ich meine Gitarre. Ich spielte das Solo. Wir probten. Manchmal sang ich. Und irgendwann traten wir auf. Das fühlte sich gut an, wir waren einen Schritt weiter. Es war die Zeit, in der wir uns auf dem Nachhauseweg versicherten, dass wir den Wag gemeinsam gehen werden. Auf alle Zeiten gemeinsam.

      Dann kam mein Durchbruch. Hark und Max blieben zurück. Manchmal, wenn ich an die beiden dachte, Tagträume mir blasse Erinnerungen brachten, sah ich sie hinter einer Schranke stehen. Hark winkte verhalten, seinen Drumstick hielt er in der winkenden Hand, nur einen Stick. Hatte er den anderen verloren auf seinem Weg? Kurz erreichte mich die Frage, für die ich keine Antwort suchte.

      Mein steiler Weg, mein Durchbruch. Es war der eine Song, der mir zuflog. Zuerst mir zuflog und dann hinausflog. CDs verkauften sich, jeder kannte das Lied und meine Stimme. Senkrechtstart, sagten meine Eltern nicht ohne Stolz. Damals konnte ich sie noch hören. Wie sie es sagten, nicht ohne Stolz. Schritt für Schritt weiter nach oben. Ein weiteres Lied, noch eines, sie kamen geflogen.

      Und dann nicht mehr. Plötzlich waren sie fort, meine Lieder. Ich war oben, im Zenith weit nach oben gegangen, meine Füße berührten den Boden nicht mehr. Schritt für Schritt, Fuß vor Fuß. So wäre es gut gewesen. Aber es kam anders. Ich flog.

      „Nimm das hier“, sagte jemand, „nimm das hier, Bowie!“ So hieß ich im Zenith: Bowie. Wie der große Bowie. Seinen Namen gaben sie mir. „Nimm das hier, Bowie!“, sagten sie. Und ich nahm, ich flog, die Wolken dicht, neongrün und dicht. Selten kamen die Songs. „Nimm mehr, Bowie!“ Und ich nahm. Die Wolken summten, das Licht grell, um mich herum Geräusch, Lärm, gleißendes Licht. Keine Lieder. Mein Mund voll grüner Wolke, ohne Stimme, ohne Lied.

      Schritt für Schritt, irgendwo hin, irgendwas entgegen. Hinein ins Licht, ins gleißende Licht, ins schreiende Neongrün.

      „Nimm mehr“, sagte ich zu Bowie. Und ich nahm.

      HIMBEEREN, SOMMER 1947

      Sie sind reif, die Himbeeren am Tannenberg. Eine wichtige Nachricht für das Dorf. Es wird Marmelade geben für den kommenden Winter, die Kinder werden rote Münder haben, die Mütter werden wenig davon essen, eine Messerspitze voll vielleicht für die Scheibe Brot. Die Kinder werden vom Brot abbeißen und lachen über den Abdruck ihrer Zähne im Brot und in der Marmelade, die kleineren über ihre Zahnlücken. Und die Mütter werden froh sein über den stumpfen Abdruck der kleinen Gaumen. Das Kind wird groß, die schwerste Zeit ist überwunden, werden die Mütter denken und die Kinder lachen.

      Sie hat ihr Mädchen bei der Nachbarin gelassen. Der ganze Tag oben auf dem Tannenberg bei der Hitze wäre zu viel für das kleine Kind. Der Nachbarin wird sie später Himbeeren abgeben.

      Sie spürt eine starke, frohe Zufriedenheit. In ihren Beutel legt sie eine Flasche Wasser, sie wird davon trinken am Tage. Die Milchkanne mit dem Deckel wird sie in der Hand tragen. Sie ist zu groß für den Beutel.

      Die Himbeeren werden die Kanne füllen zunächst, während des Tages werden die Beeren zusammensacken, sie wird nicht mehr voll sein, wenn sie wieder zurück sein wird.

      Am Abend, wenn das Kind schläft, wird sie die Marmelade einkochen, etwas Zucker ist noch da, in den Läden gibt es keinen mehr. Während der Zeit der reifenden Früchte sind die Lager schnell leer gekauft.

      Schon am frühen Morgen ist dieser Tag heiß, die Straße durch das Dorf staubig. Sie fühlt sich getragen von der Freude auf die Beeren, auf die Gesellschaft der anderen Frauen. Sie weiß, es werden viele oben am Tannenberg sein und die Fahrt dorthin fröhlich. Ihre