„Haben Sie eine bessere Idee?“
Neugierig schaute er Soul an.
„Würden Sie…, würden Sie sie mir leihen?“
„Leihen?“
Nun war er doch verdutzt.
„Ja, leihen.“
„Die Fliege?“
„Ja, um Himmels Willen, würden Sie mir die Fliege leihen? Ich verspreche Ihnen, Sie bekommen sie wieder. Ich möchte sie meinen Freunden zeigen.“
Schmunzelnd willigte er ein.
„Und wenn Sie sich sattgesehen haben, geben Sie sie mir zurück.“
Sir W.I.T. händigte ihr das Kästchen aus, verabschiedete sich und spazierte davon.
„Moment“, rief Soul hinter ihm her, „wann sehen wir uns wieder? Wo kann ich Sie finden?“
Er drehte sich kurz um.
„Keine Sorge, ich finde Sie. Und vergessen Sie nicht, die Fliege zu füttern.“
Schon war er in der Dunkelheit verschwunden.
Soul stand da mit dem Kästchen in der Hand und starrte in die Nacht.
Füttern?
Womit, zum Teufel, fütterte man eine Fliege?
6
Vier Augenpaare richteten sich neugierig auf eine gläserne Streichholzschachtel, die auf Souls Couchtisch stand und in der Sir W.I.T.s Fliege unruhig hin und her krabbelte. Davor saßen die Geschwister mit ihren Freunden Mortues und Botoja und versuchten, dem Phänomen „Insekt“ auf den Grund zu gehen.
Botoja war Mitarbeiterin der Boulden’s Group of Fantasy and Nostalgia Products und überprüfte Waren aus früheren Jahrhunderten auf ihren aktuellen Marktwert. Eine repräsentative Gruppe von Probanden bewertete Attraktivität und Praktikabilität der veralteten Produkte, die dann in ähnlicher Form, aber mit neuen Materialen und einer dem Zeitgeist angepassten Aufmachung wieder in den Handel gebracht wurden. Der neueste Renner waren Streichholzschachteln aus Glas mit Schiebedeckeln. Die normalerweise darin enthaltenen blauen Streichhölzer waren aus einer brennbaren Kunststoffmasse hergestellt, die ähnliche Eigenschaften besaß wie das ehemals verwendete, aber kaum noch bekannte Holz. Statt des früher üblichen Schwefels wurden die Stäbchen nun mit leuchtend rotem Plastikzündstoff ausgerüstet. Klar im Design, konsequent in der Linie, aber auch irgendwie hübsch anzusehen, war so ein Schächtelchen, besonders in Verbindung mit einem passenden Angebot farblich abgestimmter Kerzen, genau das Richtige, um den Spieltrieb der in einer rein zweckdienlichen Kunststoffwelt aufgewachsenen Tambara-Bewohner zu befriedigen.
Mortues, Botojas Verlobter, war Medizinstudent und angehender Diagnosearzt. Seine Aufgabe würde später darin bestehen, durch umfassende Vorsorgeuntersuchungen Krankheiten schon im Frühstadium zu erkennen und die Patienten zur entsprechenden Therapie an die Spezialabteilungen der Timberlaine’s Group – Medical Systems of Health zu überweisen.
Fasziniert beobachteten die Freunde diese knubbelige Masse mit sechs Beinen, zwei Flügeln und Facettenaugen, die ein ganz eigenständiges Leben zu führen schien, ohne dass ein Mensch durch Knopfdruck, Wärmesensor oder Sprachbefehl auf sie Einfluss hätte nehmen können. Sie flog, krabbelte, produzierte eine Reihe ungewöhnlicher Geräusche und war mit ihrer Gefangenschaft anscheinend ganz und gar nicht einverstanden.
Dann wieder saß sie still, wartete …
Gespannt beugten sich die jungen Leute über den kleinen Kasten.
Die Fliege rührte sich nicht.
„Ob sie tot ist?“, überlegte Botoja.
„Quatsch“, protestierte Mortues, „dann würde sie auf dem Rücken liegen.“
„Woher willst du das wissen? Hast du je in deinem Leben eine tote Fliege gesehen?“
Botoja legte ihren Kopf auf die Tischplatte und betrachtete das Tier aus der Insektenperspektive.
„Hast du sie gefüttert?“, fragte Reb.
„Ja, mit Apfelstückchen und Wassertropfen“, antwortete Soul.
„Und? Hat sie gefressen?“
„Ich glaube schon. Jedenfalls sah es so aus.“
Noch ein wenig näher rückten die vier an das Kästchen heran. Plötzlich löste sich das Tier aus der Erstarrung. Summend und brummend flog es in seinem Käfig hin und her. Dabei stieß es fortwährend an die Wände des Behälters, was bei jedem Aufprall ein so lautes, unangenehm klopfendes Geräusch erzeugte, dass die Freunde erschreckt zurückwichen.
„Meine Güte, welch eine Kraft“, stieß Soul hervor und legte wie zum Schutz die Hand auf ihre Brust.
Auch den anderen pochte das Herz bis zum Hals. In respektvollem Abstand setzten sie ihre Beobachtung fort. Das Tier beruhigte sich allmählich und krabbelte wieder kreuz und quer durch die Schachtel. Mit seinem Rüssel inspizierte es den Boden des Kästchens.
„Was glaubt ihr“, fragte Soul plötzlich, „ist diese Fliege wohl schön?“
Als die anderen sie verdutzt anschauten, fuhr sie fort: „Überlegt nicht lange, sagt mir einfach, ob sie schön ist.“
„Mm, immerhin hat sie überlebt“, gab Mortues zu bedenken.
„Genau das meine ich. Sie muss doch zum Besten gehören, sonst würde sie längst nicht mehr existieren.“
„Aber eine Fliege kauft doch niemand“, wandte Botoja ein.
„Vielleicht wird sie eingesetzt, um mit ihrer Hilfe etwas Schönes zu produzieren“, sinnierte Mortues.
„Ja, genau, wahrscheinlich braucht Sir W.I.T. sie für seine Apfelzucht“, meinte Botoja.
Soul war nicht überzeugt.
„Na ja, wenn er sie benötigt, um seinen schönen Tambara-Apfel herzustellen, dann hat sie natürlich eine Existenzberechtigung.“
Es klingelte.
„Erwartest du Besuch?“, fragte Reb überrascht.
„Nicht dass ich wüsste“, wunderte sich seine Schwester.
Soul warf einen Blick auf den Bildkopf ihres Technikarmbandes. Draußen stand das Sicherheitspaar des Medienkonzerns.
„Nanu, was wollen die denn hier?“
„Zeig her!“
Reb zog Souls Handgelenk zu sich herüber und musterte die beiden Köpfe auf dem Armbandmonitor.
„Um Himmels Willen“, rief er und sprang auf, „wir müssen die Fliege verschwinden lassen!“
Einen Moment lang stand er unschlüssig im Raum und blickte sich nach allen Seiten um. Dann ergriff er die Schachtel, spurtete zum Schreibtisch und warf sie kurzerhand in die Schublade. Mortues drückte auf den Technikstreifen in der Sofalehne und verwandelte die gegenüberliegende Wand in einen überdimensionalen Fernseher. Auf dem Bildschirm jagten Angestellte des Sicherheitsdienstes gerade einen Schwerverbrecher. Botoja schmiegte sich in ihren Sessel und gab vor, das Geschehen auf der Filmwand zu verfolgen. Soul öffnete die Tür und führte das Paar herein.
„Tambara-Hallo“, grüßte es, als es eintrat.
„Tambara-Hallo“, erwiderten die jungen Leute wie aus einem Munde.
Reb, der sich gerade noch auf die Couch hatte werfen können, betätigte demonstrativ die Fernbedienung, so als würde er das Programm eigens für den Besuch unterbrechen. Umständlich krabbelte er aus der Sofaecke.
„Was verschafft uns die Ehre eures Besuches?“, fragte er möglichst harmlos und begrüßte die beiden per Handschlag.