diese Linie an“, forderte er seine Gesprächspartnerin auf und fuhr mit der Hand die Form des Instrumentes nach. „Sehen Sie, wie konsequent der Fotograf sie gestaltet hat? Kraftvoll und elegant ist sie, raumgreifend und fließend, erfrischend klar und doch … erfüllt von einer fast physisch spürbaren Wärme.“
Während er sprach, glitten seine Finger über das Bild, ohne das Glas zu berühren. An seinem schlanken Handgelenk registrierte Soul ein teures Technikarmband und eine weiße Hemdmanschette.
„Ich finde, das Motiv fasziniert nicht nur durch die gelungene Komposition bildnerischer Elemente“, ergänzte sie energisch und richtete sich auf. „Es ist die Aussage, die besticht. Dieses Foto will keine vorprogrammierten Inhalte im Kopf des Betrachters festsetzen, um ihn zum Kauf irgendeines Produktes zu bewegen. Hier geht es um Genuss, und zwar um den Genuss um seiner selbst willen. Der Musiker plant seine Melodie nicht im Voraus, sondern nimmt sich Zeit, sich auf sie einzulassen. Er wartet ab, wie sie sich entwickelt, und findet erst während des Auftritts seine momentane Spielart. Wahrscheinlich hat er dieses Stück schon Hunderte von Malen gespielt, doch wie er es in diesem Augenblick gestalten wird, hängt von seiner Stimmung ab, von dem Tag, den er verlebt hat, den Menschen, die ihm begegnet sind. Er legt all seine Freude hinein, seine Enttäuschung, seine Hoffnung. Indem er seinen Gefühlen Ausdruck verleiht, befreit er sich selbst. Und so wie der Musiker nur für diesen Augenblick spielt, so lebt auch das Bild nur durch sich selbst und für sich selbst …, und deshalb ist auch das Betrachten dieses Bildes … purer Genuss.“
Soul atmete tief und heftig.
Für einen Moment schwiegen beide.
Schließlich löste sich ihr Gegenüber vom Anblick der Fotografie.
„Welch weise Interpretation für eine so junge Dame. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist W.I.T., Sir W.I.T.“
Er reichte ihr die Hand.
Soul wurde blass.
„W.I.T. …? Sir W.I.T. …? Der Sir …?“, fragte sie ein wenig zu laut und merkte, wie ihr Gegenüber zusammenzuckte.
„Bitte entschuldigen Sie, ich hatte nicht erwartet, einer solchen Berühmtheit auf unserem bescheidenen Konzert zu begegnen.“
Freudig ergriff sie die ihr dargebotene Hand und war überrascht über den warmen, fast persönlich anmutenden Händedruck, der ihr zuteilwurde. Sie registrierte noch, dass er wohl nicht mehr ganz so jung war, wie sie zunächst vermutet hatte, ein Mann mit Lebenserfahrung, da wanderten sie schon gemeinsam den Säulengang entlang.
„Ich hoffe, Sie genießen den kleinen Abend, den wir arrangiert haben.“
„Ich bin entzückt. Er zeugt von Geschmack und Intelligenz … und … Mut.“
Schon wieder ein Kompliment.
Soul war sichtlich irritiert.
„Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe, aber es gibt …“
„… kaum Bildmaterial von mir, ich weiß“, ergänzte er verständnisvoll.
Soul lächelte. Wie nett von ihm, ihr über diesen peinlichen Moment hinwegzuhelfen.
An einem der Rundbögen blieben sie stehen und blickten zur Bühne hinüber. Unter tosendem Applaus verabschiedete sich der künstliche Louis Armstrong von seinem Publikum. Soul klatschte begeistert mit. Es war wirklich eine gelungene Vorstellung gewesen. Mit so viel echtem Beifall hätte sie nicht gerechnet. Vielleicht interessierten sich die Bürger Tambaras doch mehr für die Vergangenheit, als sie bisher vermutet hatten. Plötzlich erschien es ihr unhöflich, so lange zu schweigen. Sie wandte sich wieder ihrem Gesprächspartner zu und stellte überrascht fest, dass dieser verschwunden war.
4
Soul saß an ihrem großen, fast leeren Schreibtisch und betrachtete einen Apfel. Es war ein ganz besonders schöner Apfel. Er lag vor ihr auf der Tischplatte und war groß und gelb, mit einem Hauch von Rot und Grün an einer Seite. Seine Haut war feinporig und schimmerte wie Porzellan, vielleicht sogar wie Seide, wie ganz besonders feine Seide, doch wenn man sie berührte, diese Haut aus Seide, fühlte sie sich fest an und fast ein wenig lederartig, so wie ein dicker Schutzmantel, der etwas zu bewahren hatte und nur unter Einsatz von Gewalt bereit war, sein Inneres zu offenbaren.
Soul nahm den Apfel in die Hand und hielt ihn in das Licht. In Zeitlupe drehte sie ihn, fuhr mit den Fingern über seine Schale, hauchte diese an und putzte sie an ihrem Blusenärmel blank, drehte den Apfel ein weiteres Mal im Schein der durch die großzügigen Scheiben ihres Wohnraumes einfallenden Sonnenstrahlen hin und her und legte ihn wieder auf der Tischplatte ab.
Ein Apfel.
Der Apfel.
Der Tambara-Apfel.
Waren sie nicht alle gleich, diese Äpfel? Ein Apfel sah doch aus wie der andere? Früher, so überlegte sie, da gab es große und kleine Äpfel, dickbäuchige und schlanke, Äpfel mit grünen, gelben, roten oder bunt gefärbten Schalen, mit süßem Fruchtfleisch oder herzhaftem Innenleben. Wie sie gehört hatte, bevorzugten die Kunden von damals sehr unterschiedliche Geschmacksrichtungen und kauften ihren Vorstellungen entsprechend auch ganz verschieden ein. Heutzutage gab es nur einen Apfel: den Tambara-Apfel. Er sah immer gleich aus: groß und gelb, mit einem Hauch von Rot und Grün an einer Seite. Vor gar nicht allzu langer Zeit konnten die Bewohner der Stadt noch zwischen zwei miteinander konkurrierenden Apfelsorten wählen. Doch dann kam der Tambara-Apfel. Er war größer als seine Vorgänger, fester im Fleisch und extrem haltbar – schlichtweg konkurrenzlos. In kürzester Zeit verschwanden die beiden alten Sorten vom Markt.
Soul platzierte ihre Unterarme auf der Schreibtischplatte, bettete das Kinn auf die übereinandergelegten Hände und begutachtete die Frucht aufs Neue. Auch aus dieser Perspektive betrachtet, war es immer noch ein Tambara-Apfel: groß und gelb, mit einem Hauch von Rot und Grün an einer Seite.
So sinnierend fand Reb seine Schwester, als er sie nach dem Frühstück aufsuchte, um mit ihr die Pressereaktionen durchzugehen.
„Nanu?“, wunderte er sich. „Bei welch wichtiger Gedankensitzung habe ich dich denn gerade gestört?“
Soul hob den Kopf.
„Findest du nicht auch, dass dies ein ganz besonders schöner Apfel ist?“, fragte sie, ohne auf seine Neckerei einzugehen.
„Mag sein“, entgegnete Reb halbherzig und steuerte auf das Sofa zu.
„Findest du nicht, dass dies ein ganz besonders schöner Apfel ist?“, wiederholte seine Schwester die Frage und schaute weiter unbeirrt auf den Gegenstand ihrer Unterhaltung.
Reb wusste nicht so recht, was er davon halten sollte.
„Es ist halt ein Tambara-Apfel.“
Als Soul nichts entgegnete, fügte er hinzu: „Ein Tambara-Apfel ist immer schön, sonst wäre er kein Tambara-Apfel.“
„Genau das meine ich.“
„Also komm, Schwesterchen, worauf willst du hinaus?“
Soul setzte sich auf und blickte ihren Bruder an.
„Du hast es gerade selber schon gesagt. Er muss schön sein, weil er ein Tambara-Apfel ist. Dieser Apfel ist nämlich genau definiert: seine Größe, seine Farbe, die Konsistenz des Fruchtfleisches, der Geschmack. Das heißt, wir brauchen uns gar nicht erst den Kopf darüber zu zerbrechen, ob er schön ist. Wir wissen, dass er es ist, sonst hätte er in unserer Gesellschaft nicht überlebt.“
„Ich weiß, was du meinst“, erwiderte Reb, „aber lass uns jetzt die Sonntagszeitung ausdrucken.“
Doch Soul war noch nicht fertig.
„Vielleicht ist er ja gar nicht schön.“
Reb stieß einen Seufzer aus und ließ sich auf das Sofa plumpsen.
„Woher wollen wir eigentlich