Systemen hängt. Es geht also in der Mathematik immer wieder darum, Kompliziertes einfach zu machen. Insofern ist die Mathematik die „Kunst des Erklärens“.2
Mit nochmals anderen Worten: Mathematik ist Sprachpräzision. Im Verhältnis zur realen Welt geht es in der Mathematik (im Verein mit den beobachtenden Wissenschaften) zunächst darum, präzise sprachliche Beschreibungen („Modelle“) von interessierenden Aspekten der realen Welt zu schaffen und dann durch präzises Argumentieren aus diesen Beschreibungen neue und für die Realitätsbewältigung relevante Fakten über diese Aspekte zu erschließen.
Ich halte die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Potenz und Relevanz der Mathematik als „Kunst des Erklärens“ im Prinzip für noch wichtiger als ihre Rolle und Relevanz als Nabe, an der sich das Rad der heutigen Wissenschaft und Technologie dreht. Durch ein limitiertes Verständnis der Mathematik, das sie auf das Beschäftigen mit „typisch mathematischen Objekten“ wie Zahlen, Figuren und den aus der Schule bekannten mathematischen Themen beschränkt, verstellt man das Bild der Mathematik als universelle Kunst des Erklärens und vergällt so manchem das Vergnügen und den Vorteil, sich durch Mathematik (Denkpotenz) besser im Leben orientieren und behaupten zu können als ohne.
Das klingt sehr einfach. Woher kommt jetzt die Faszination der Mathematik?
Die Faszination kommt zunächst daher, dass man oft in sehr abstrakte, „atemberaubend schöne“ fantastische Räume hochsteigen muss, um schwierige Probleme aus der „Down-to-earth“-Realität lösen zu können.
Die Lösung lässt oft viele Jahre und Jahrzehnte auf sich warten. Sie braucht die kreativsten Geister der jeweiligen Zeit, es entsteht etwas wie eine „Weltmeisterschaft im Cyberspace des Intellekts“. Je abstrakter die Räume sind, in die man ein Problem verlagert, umso mehr Anwendungsprobleme in umso mehr konkreten Realitäten kann man mit einem Schlag lösen. Oft findet man später noch viele weitere überraschende neue Anwendungen, an die man beim Arbeiten und Lösen in den abstrakten Räumen gar nicht gedacht hatte. Wer also sehr praktisch sein möchte, sollte lernen, sehr abstrakt sein zu können.
Wer würde zum Beispiel denken, dass das Problem, die Zapfventile an einer Ölbohrinsel optimal zu steuern, das Problem, Passwörter zu knacken, das Problem, aus einem vorhandenen Computercode die ursprüngliche Intention des Programmierers zu rekonstruieren, das Problem, die genetische Nachbarschaft von verschiedenen Spezies in der Evolution zu entscheiden, und das Problem, Gesetze der Thermodynamik auf ihre Unabhängigkeit zu prüfen, sämtlich durch Lösung des einen Problems der Strukturbestimmung im abstrakten mathematischen Raum der „Polynomideale“ gelöst werden können?
Es zahlt sich also aus, sehr abstrakte mathematische Räume zu erfinden und sich in ihnen gedanklich zu bewegen, bis man sich darin so gut auskennt, dass es einem wie Schuppen von den Augen fällt: Hier sind die tragenden Fäden im scheinbar komplizierten Spinnennetzwerk der abstrakten Objekte und – noch mehr – ich kann beweisen, dass das ganze Netz wirklich nur an wenigen Fäden hängt!
Also hoch in die fantastischen Räume der Mathematik, dort ein bisschen werkeln und dann zurück in die Realität. Ist das alles?
Um die Faszination der Mathematik – auch im geschichtlichen Zusammenhang und weit in die Zukunft extrapolierend – wirklich zu verstehen, muss man in dem einfachen Bild aber noch einen weiteren Pfeil, den wesentlichen, einführen:
Das ist der Pfeil der „Selbstanwendung“: Die Resultate von Beobachten – Denken – Handeln (von Naturwissenschaften – Mathematik – technischen Wissenschaften) ermöglichen es zunächst, sich ein Bild von der Welt zu machen und darin gezielt zu agieren.
Diese Resultate dienen aber auch dazu, die Werkzeuge des Beobachtens – Denkens – Handelns selbst (die Instrumente der Naturwissenschaften – Mathematik – technischen Wissenschaften) laufend zu verbessern. Das heißt, die Wissenschaft wendet ihre Resultate auch auf die Verbesserung der Methoden der Wissenschaft selbst an. Kurz: Die Wissenschaft wendet sich auf sich selbst an.
Diesen Gedanken der Selbstanwendung (Reflexion, Rückbezüglichkeit, Selbstreflexion …) sollte man gründlich durchdringen. Denn dieser Gedanke eröffnet ein tiefes Verständnis der Geschichte der Menschheit, ein tiefes Verständnis der heutigen Zeit und eröffnet auch den klarsten Blick auf die Zukunft.
Es ist erhellend, sich diesen Gedanken an vielen Beispielen immer wieder klarzumachen:
Zum Beispiel ist klar, dass die Entdeckung der Lichtbrechung in Glas und anderen lichtdurchlässigen Materialien, die man mit freiem Auge beobachten kann und die dann zum Beispiel in der Schmuckerzeugung „unreflektiert“ angewandt wurde, nach einiger Zeit auch „reflektiert“ auf die Verbesserung des Beobachtungsprozesses selbst angewandt wurde. Das führte zur Erfindung des Mikroskops oder des Teleskops, die unzählige weitere, neue wissenschaftliche Beobachtungen und Erkenntnisse ermöglicht haben.
Ein anderes Beispiel: Es ist zunächst klar, dass die Erfindung von Produktionsrobotern die Herstellung von zum Beispiel Autos um ein Vielfaches leichter, effizienter, genauer und schneller gemacht hat. Produktionsroboter werden aber auch eingesetzt, um das Produzieren der Computer zu automatisieren, die zum Beispiel in Robotern eingesetzt werden. Das ist Selbstanwendung! Und sie ist faszinierend.
Ein weiteres Beispiel, wo die Selbstanwendung nur wenigen klar ist, die Faszination und die Konsequenz für die Ereignisse im 20. Jahrhundert aber unfassbar sind: der universelle Denkkalkül der sogenannten „Prädikatenlogik“, eine zutiefst mathematische Erfindung3, ist zunächst ein sprachlicher Rahmen für die Beschreibung beliebiger Modelle der Realität. Fast unbemerkt enthält dieser Kalkül aber auch eine exakte Beschreibung des Prinzips des universellen, programmgesteuerten Rechnens, das circa zehn Jahre nach der Formulierung der Prädikatenlogik die Grundlage für den Bau des ersten modernen Computers wurde. Es ist wohl müßig zu erklären, welche Revolution der Computer in allen Bereichen der Gesellschaft ausgelöst hat. Wo ist die Selbstanwendung? Sie besteht darin, dass die zutiefst mathematische Erfindung des Computers die Praxis der Mathematik selbst, die vorher nur mit „Papier und Bleistift“ stattgefunden hat, grundlegend geändert, nämlich automatisiert hat.
Das klingt ja wie Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Wasser zieht. Die Mathematik, ein trügerisches Märchen?
Nein, im Augenblick der erfolgreichen Selbstanwendung muss es zwei Münchhausens geben. Einen, der im Wasser schwimmt, und einen, der draußen steht. Beide haben Arme. Das „Prinzip Arm“ wird auf sich selbst angewandt, aber der Anwender ist vom Angewandten verschieden.
Das Prinzip der Selbstanwendung ist in der Tat so alt wie die Geschichte der Menschheit: der Stein, der auf den Stein geschlagen wird. Wer ist der Geschlagene, wer der Schläger? Einer zerbricht, nennen wir ihn den Geschlagenen, den anderen den Schläger. An den Hälften des Geschlagenen entsteht eine scharfe Kante: welch ein technologischer Fortschritt! Mit dieser Kante ist der nächste Schritt in der Evolution möglich: Ein vielfach verwendbares „Messer“! Ein Messer, das nun Tierhäute zerlegen kann, Holz zu Pfählen spitzen …
Das Prinzip der Selbstanwendung ist noch älter als die Menschheit. Denken Sie an das Molekül, das auf ein anderes „schlägt“. Und weiter auf den subtileren Schichten der Natur. Die Physik beginnt zu ahnen, was ganz innen passiert, wenn Wellen auf Wellen schlagen. Am Anfang steht die „reine Selbstanwendung“.
Wenn man den Gedanken der Selbstanwendung im Kontext der Mathematik versteht, ist man auch im Zentrum der Forschung in der heutigen Mathematik angelangt. Denn heute befassen sich weltweit etliche mathematische Forschungsgruppen mit den Möglichkeiten, Computerverfahren zu entwickeln, die sogar den mathematischen Erfindungs- und Verifikationsprozess bis zu einem gewissen Grad automatisieren. Diesem Thema widme ich mich selbst – nach Vorarbeiten seit 1974 – intensiv seit 1995.4
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