Die Dunkelheit war zwischenzeitlich mit aller Macht über die Stadt hereingebrochen. Lediglich ein schmaler Streifen mattroten Lichts hinter dem westlichen Horizont kündete davon, dass die Sonne weiter auf ihrer Wanderung war. Über ihm schickte die kommende Nacht ihr dunkles Blau voraus, durchsetzt mit funkelnden Sternen und, ganz im Osten, einem satten, glänzenden Vollmond. Es wurde Zeit, umzukehren.
Der Schein des Monds brach sich in den Wassern der Regnitz und vermischte sich mit dem grünen Schimmer einer einsamen Leuchtreklame. Vom nahen Stadtzentrum tönte immer noch Verkehrslärm herüber. Carlo Eposito trat näher an das eiserne Geländer am Flussufer heran, das hier zum Schutz der Fußgänger aufgestellt worden war. Erst jetzt bemerkte er die Informationstafel, die sich hauptsächlich an Touristen richtete. Schleuse 100 las er im fahlen Schein einer altertümlichen Laterne. Das sagte ihm etwas. Hier in der Nähe musste es gewesen sein, wo der Fluss die Leiche des Mädchens freigegeben hatte. Herr, nimm Johanna auf in deinen Schoß.
„He! Papa.“ Eine Gestalt hatte sich aus dem tiefen Schatten eines riesigen Wacholderstrauchs geschält und kam langsam auf den Kurienbischof zu.
Ihr Gesicht war von einer übermächtigen Kapuze verborgen. Eposito war sich dennoch sicher, dass er diesen Mann nicht kannte.
Dann ging alles sehr schnell. Das dünne Stahlseil legte sich wie eine geschmeidige, hinterlistige Schlange um den faltigen Hals des Bischofs. Sofort wurde die Schlinge mit großer Kraft zugezogen. Eposito spürte einen brennenden Schmerz, versuchte, sich zu befreien, war jedoch machtlos gegen die Kraft des Angreifers, der dem Zappelnden jetzt sein Knie in den rechten Oberschenkel stieß, ihn zu Fall brachte und zu Boden drückte.
Unbeholfen lag der Bischof bäuchlings auf dem rauen Kopfsteinpflaster, sein Gesicht wurde in den Staub des engen Weges gedrückt. Die Häuserzeile rückte hier ganz eng an den Fluss heran. Eposito roch den trockenen Dreck der Straße, der sich mit dem Gestank von Diesel und Benzin vermischte, er sah die Asphaltflecken, die das Pflaster durchzogen, hörte sein eigenes, rasselndes Stöhnen. Es klang nach dem nahenden Tod. Der fremde Angreifer saß auf ihm und zog immer noch mit seiner ganzen Kraft an der stählernen Schlinge. Hat dich Gott geschickt? Ist das die Strafe für meine Tat? Wartet nun das Fegefeuer auf mich?
Eposito spürte den Schmerz des Todes nicht mehr, als er in die Bewusstlosigkeit hinüberdämmerte. Dann explodierte ein helles, gleißendes Licht in seinem Kopf und trug ihn fort. Gott, mein Herr, bald bin ich bei dir. Ich bin ein Sünder. Verstoße mich nicht. Nehme meine Buße an.
Der Mörder löste das Stahlseil vom Hals des Toten und steckte ihm ein papierenes Kärtchen mit einer handgeschriebenen Zeile in eine seiner Anzugstaschen: Papa era cattivo. Dann machte er sich am Bischofsring zu schaffen und verschwand still und leise in der Dunkelheit.
Überfordert
Dienstag, 29. August
„So eine Scheiße!“ Harald Hagenkötter fluchte wie ein Rohrspatz und zupfte unentwegt an seinem Schnauzbart. Eine typische Geste, wenn er nervös oder verärgert war.
Da war noch nicht einmal die Identität des toten Mädchens in der Regnitz geklärt und schon bescherte ihm der heutige Dienstag ein weiteres Mordopfer. Noch dazu einen römischen Kurienbischof aus dem Vatikan. Prost Mahlzeit, das konnte noch heiter werden.
Der Bamberger Oberbürgermeister war der erste, der am frühen Morgen angerufen hatte, gleich darauf ein Vertreter des Erzbistums und beide waren nicht erfreut gewesen. Gerade hatte er noch den Polizeipräsidenten für Oberfranken aus Bayreuth an der Strippe gehabt. Sie alle hatten ihn mit Fragen gelöchert, die er noch nicht beantworten konnte. Und er ärgerte sich: Für das tote Mädchen interessierte sich plötzlich kein Schwein mehr. Alles drehte sich nur um den römischen Bischof.
Jetzt war Hagenkötter auf dem Weg zum großen Besprechungszimmer. Dort hatte er sein Ermittlerteam zusammengerufen. Aufgaben mussten neu verteilt werden. Leider fehlte Professor Stich, auf dessen Erfahrung und Urteilsvermögen er so gerne baute. Die Obduktion der Leiche war schon in vollem Gange und Stich somit gut beschäftigt.
Im Besprechungsraum herrschte Hektik. Seine Leute waren von den Ereignissen genauso überrascht worden wie er. Der Hund eines frühen Spaziergängers hatte den toten Bischof gegen fünf Uhr morgens gefunden. Sein Herrchen, ein 80-jähriger Rentner, war völlig überfordert gewesen. Was tun? Ein Mobiltelefon hatte der Mann nicht dabei. Am nächsten Wohnhaus klingeln? Jetzt, um diese Uhrzeit? Gott sei Dank war ein Zeitungsausträger vorbeigekommen, der dann die Polizei angerufen hatte.
Hagenkötter warf die Tür des Besprechungszimmers hinter sich zu. „Guten Morgen!“
„Guten Morgen“, tönte es zurück, dann wurde es mucksmäuschenstill.
„Jetzt haben wir die Kacke am dampfen. Ich weiß nicht, was momentan in dieser Stadt los ist. Alle Schaltjahre haben wir mal einen Mord aufzuklären und jetzt, innerhalb von zwei Tagen, liegen gleich zwei Fälle auf dem Tisch. Wenn das so weitergeht … Wer von der Spusi war heute früh am Tatort? Gibt es irgendetwas Auffälliges, wo wir ansetzen können?“
Gerhard Frank von der Spurensicherung meldete sich als Erster: „Hautschuppen haben wir genug gefunden, aber im Moment sind wir erst bei der Auswertung. Das Opfer wurde erdrosselt. Vermutlich mit einer Würgeschlinge oder einem ähnlichen Instrument. Ich soll Ihnen von Professor Stich ausrichten, dass er noch vor Ort Blutaustritte durch Mund und Nase festgestellt hat. Das passiert, wenn die Luftröhre durch Druck so stark komprimiert wird, dass sie reißt. Die Male und der Druck auf das Halsgewebe waren auffallend gleichmäßig verteilt: tief, scharf abgegrenzt und in ähnlicher Ausprägung rund um den Hals feststellbar. Als Mordwerkzeug wurde also wahrscheinlich ein Drahtseil benutzt – da würde ich aber noch die genaue Obduktion abwarten, um sicher zu sein. Das Auffälligste an der Leiche steckte aber in seiner linken Anzugtasche: Der Täter hat eine Nachricht hinterlassen. Einen Zettel, etwa DIN A 6-Format, handbeschrieben. Die Schrift ist sehr gut lesbar: Papa era cattivo. Der Zettel ist gerade im Labor. Die KTU kümmert sich darum.“
„Mein Italienisch ist jetzt nicht das beste. Könnte mich mal jemand aufklären?“ Hagenkötter zupfte wie wild an seinem Schnauzbart herum.
„Papà era cattivo – zu Deutsch: Papa war böse, wenn ich mich nicht irre. Aber ich hab den Zettel noch nicht selbst gesehen …“, kommentierte Tina Meisel.
„Papa war böse? Sind wir hier im Kindergarten oder in der Klapsmühle?“, schnaufte Hagenkötter. „Ist das alles?“
„Sein Bischofsring ist auch weg“, schaltete sich Gerhard Frank noch einmal ein. „Ansonsten fehlt offenbar nichts. Geldbörse, persönliche Dokumente, Hotelschlüssel – alles noch vorhanden.“
„Wer bringt denn einen Bischof um, nur um seinen Ring zu klauen?“ Der Hauptkommissar sprach mehr zu sich selbst als zu seinen Mitarbeitern. „Und was hat dieses Papa-Getue damit zu tun?“
„Der Bischofsring ist sicher nicht der Grund seines Todes“, meinte Tina. „Der Geistliche trug keine Amtskleidung, sondern einen ganz normalen, schlichten schwarzen Anzug. Von hinten hätte der Mörder unmöglich erkennen können, dass er es mit einem hohen Würdenträger der römisch-katholischen Kirche zu tun hatte – und Eposito wurde ja wohl von hinten erdrosselt?“ Sie legte die Stirn in Falten. „Von vorn allerdings hätte man den weißen Kragen seines Kollarhemds sehen können, das ist dieser typische Priesterkragen. Aber bedenken wir: Es war mitten in der Nacht und der Angriff ging sicherlich ganz schnell vonstatten. Und überfällt jemand gezielt einen Geistlichen? Nur wegen seines Rings? Unwahrscheinlich.“
„Außer der Mörder kannte sein Opfer“, überlegte Hagenkötter. „Worauf diese seltsame Botschaft Papa war böse hindeuten könnte.“
„Aber wer bringt denn wohlwissend einen friedlichen Bischof um?“, zweifelte Tina noch immer.
„Auch Bischöfe sind keine Engel. Auch die haben manchmal Dreck am Stecken. Die Leiche ist noch bei Professor Stich am Institut für Rechtsmedizin in Erlangen, nehme ich an?“