gab ich Ihnen noch die Auskunft, dass sich Johanna auf einem Ausflug befindet, da fielen sie fast aus dem Häuschen.“
„So – nur deshalb haben Sie Pater Ferdinand angerufen“, mutmaßte Tina.
Dr. Sieber reagierte nicht. Doch der Kommissarin war das kurze, unkontrollierte Zucken seiner über dem Knie gefalteten Hände nicht entgangen. Sie schwieg und sah den Schulleiter geduldig mit leicht geneigtem Kopf an.
„Was sollte ich denn tun?“, brach es schließlich doch aus ihm heraus. „Die beiden führten sich auf wie die Derwische und drohten mir mit der Polizei! Natürlich habe ich da meinen Kollegen hinterhertelefoniert.“
„Und dann haben Sie die Polizei angerufen und sind bei unserem Kollegen, Kommissar Schmuck, gelandet?“
„Schon“, gab der Schulleiter zu.
„Sehr seltsam“, kommentierte Hagenkötter eisig. „Sie glaubten Johanna auf Exerzitienfahrt und ihre Betreuer nahmen an, dass das Mädchen an der Schule geblieben sei. Aber gut, darüber werden wir nochmals detailliert sprechen müssen. Ihre Logik leuchtet mir noch nicht ein. Warten wir die Rückkehr der Ausflügler ab. Wir werden da wirklich noch einiges zu klären haben.“ Unvermittelt wechselte er die Tonlage und fragte fast schon aufgekratzt: „Herr Dr. Sieber, kommen wir zu dem ermordeten Kurienbischof. Kannten Sie Carlo Eposito?“
„Sie meinen den Bischof, den man am Dienstag in der Früh tot an der Regnitz gefunden hat?“ Sieber wirkte verwirrt.
„Genau den meine ich.“
„Ich weiß zwar schon, dass er ein hochrangiges Mitglied bei Santi-Figli-di-Dio ist … ich meine war, aber persönlich sind wir uns nie begegnet. Schade, er war ein großer Befürworter und Förderer unserer Prälatur, wie mir berichtet wurde.“
„Aha. Herr Dr. Sieber, bevor wir Sie wieder entlassen können, hätte ich noch eine Bitte an Sie: Können Sie uns eine Liste zusammenstellen lassen, auf der die Namen und Privatadressen sämtlicher Lehrkräfte stehen, die die Klasse von Johanna Sonnleitner unterrichten? Wir bräuchten die Liste bis spätestens morgen um die Mittagszeit.“
Sieber protestierte umgehend: „Es ist immer noch Ferienzeit. Meine Sekretärin ist im Urlaub.“
Hagenkötter überhörte den Einwand. „Und was mich auch noch interessieren würde: In Ihrer Organisation herrscht ja recht strikte Ordnung. Wie muss ich mir denn so einen normalen Tagesablauf der Santi-Figli-di-Dio-Mitglieder vorstellen?“
„Nun, Herr Hagenkötter“, Siebers Gesichtszüge entspannten sich sichtlich, hier fühlte er sich auf sicherem Boden, „die Mitglieder unserer Institution haben sich aus eigenem Willen ein Leben in Christi auferlegt. Dazu gehören strenge Regeln, wie dieses Leben zu führen ist. Grundsatz dieser Regeln sind unsere Gebete. Am Morgen nach dem Aufstehen denken wir zuerst an unseren Herrn und beten drei Vaterunser, um die Mittagszeit beten wir den Rosenkranz und besuchen nach dem Mittagessen die Heilige Messe mit dem Empfang der Kommunion. Nachmittags folgt eine Lesung aus dem Neuen Testament und gegen Abend …“
„Danke, Herr Dr. Sieber, ich denke, ich bin schon im Bilde.“ Hagenkötter stand auf. „Wir danken Ihnen für Ihre kurzfristige Bereitschaft zu diesem Gespräch. Es wird wohl nicht das letzte gewesen sein. Sollten Ihnen weitere Details zum Verschwinden von Johanna einfallen oder sollten Sie Wissen zum Aufenthalt von Bischof Eposito in Bamberg erlangen, bitte ich Sie, entweder mich oder Frau Meisel unverzüglich anzurufen, und schicken Sie uns morgen ihre beiden Patres vorbei, sobald sie wieder an der Schule eingetroffen sind. Sofort. Wir müssen dringend mit ihnen reden. Auf Wiedersehen – und noch einen schönen Tag.“
Sieber erhob sich zackig von seinem Stuhl. „Ich danke auch. Und wann immer Sie weiteren Gesprächsbedarf haben, melden Sie sich einfach bei meiner Sekretärin. Ich bin gerne bereit, bei Johannas mysteriösem Tod Aufklärung zu leisten, wenn es mir möglich ist.“ Er reichte Hagenkötter seine Hand zum Abschied und drehte Tina dabei geradezu demonstrativ den Rücken zu.
„Ach, Herr Dr. Sieber, fast hätte ich es vergessen“, Hagenkötter stieß sich mit dem Handballen seiner Linken an die Stirn, so als wolle er sein Gehirn für seine Vergesslichkeit verantwortlich machen. „Sagen Sie, wie war Johanna an ihrer Schule untergebracht? Hatte sie ein eigenes Zimmer oder teilte sie sich eines mit einer anderen Mitschülerin?“
„Aufgrund ihrer Krankheit haben wir Johanna ein eigenes Zimmer zugewiesen. Inklusive Notrufknopf.“
„Das müssen wir uns mal ansehen. Am besten gleich. Ein Team unserer Spurensicherung wird Sie zurück zur Schule begleiten.“
Der entsetzte Blick Siebers war Gold wert. Und Hagenkötter war noch nicht fertig mit ihm: „Entschuldigung, aber irgendwie habe ich heute meinen vergesslichen Tag. Hatten oder haben Sie Kenntnis davon, dass an Ihrer Schule Rauschgift konsumiert wird?“
„An unserer Schule?“ Dr. Sieber warf die Hände in die Luft und zeigte sich äußerst belustigt. „Nie und nimmer. Das wäre ja gerade so, als würde ich Sie fragen, ob Ihnen in den Reihen Ihrer Mitarbeiter nicht schon Verbrecher aufgefallen sind. Noch einen schönen Tag, Herr Hagenkötter. Habe die Ehre, Frau Meisel.“ Damit verließ er den Raum.
„Der lügt von vorne bis hinten“, waren Tinas erste Worte, als die Tür hinter dem Schulleiter zugefallen war. „Warum haben Sie ihn nicht mit dem Missbrauch konfrontiert?“
„Da gebe ich Ihnen recht. Ich meine, das mit dem Lügen. Und dass wir von dem Missbrauch wissen, braucht er zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht zu erfahren“, orakelte Tinas Vorgesetzter. „Um 14 Uhr haben wir einen Termin mit den Vertretern des Erzbistums. Mal sehen, welche seltsamen Geschichten uns die Herren Geistlichen auftischen. Haben Sie Lust, mich zu begleiten?“
„Sehr gerne.“
Widerspruch
Mittwoch, 30. August
In der Zeit, in der Harald Hagenkötter und Tina Meisel den Ausreden und Halbwahrheiten des Dr. Siebers lauschten, bereiteten sich Kommissar Franz Schmuck und ein inoffizieller Italienisch-Übersetzer darauf vor, nebenan gleich mit Giuseppe Bertone, dem Fahrer des Bischofs, zu sprechen. Schmuck hatte Nino Bellini, einen Kollegen aus dem Rauschgiftdezernat, gebeten, kurzfristig und ausnahmsweise mit Übersetzungsdiensten auszuhelfen. Gerade spähten sie zu zweit durch den Einwegspiegel, hinter dem der Fahrer wartete.
Bertone saß seit fünf Minuten in dem kleinen, spartanisch ausgestatteten Vernehmungszimmer. Ein Tisch, vier Stühle, ein Fenster mit Oberlicht und der obligatorische riesige Spiegel an einer der beiden Stirnwände, das war es. Er kannte solche Räume aus seiner Jugend und war sichtlich nervös. Dazu kam die Trauer um seinen ermordeten Bischof. Ein Polizeibeamter stand mit verschränkten Armen neben der geschlossenen Tür und starrte schweigend vor sich hin. Endlich betraten zwei Männer den Raum und nahmen Bertone gegenüber Platz. Giuseppe fühlte sich unwohl und rutschte auf seinem Stuhl hin und her.
Kommissar Schmuck nahm den Italiener scharf ins Auge: klein, untersetzt, ein kräftig sprießender Dreitagebart, pechschwarzes glattes Haar, das bestimmt jeden Tag eine halbe Tube Haarcreme abbekam. Wie man sich einen typischen Mafioso vorstellt – rein äußerlich. Doch Schmuck war erfahren genug, sich von der Optik allein nicht täuschen zu lassen.
„Kennen Sie diesen Mann?“, wollte der Kommisar wissen, nachdem er sich und seinen Kollegen vorgestellt und sich Bertone gegenüber hingesetzt hatte. Er zog ein Foto aus seiner Jackentasche und hielt es Bertone hin.
„Si, lui è il Signore Sieber, il direttore della scuola Santi-Figli-di-Dio“, nickte der Fahrer den beiden Polizeibeamten zu, brachte dabei aber immer noch nervös seinen Stuhl zum Wackeln.
Bellini bestätigte Schmuck die Bekanntschaft Bertones mit Sieber, dem Leiter der Santi-Figli-di-Dio-Schule.
„Frag ihn, ob sein Dienstherr und Sieber sich hier in Bamberg getroffen haben“, bat Schmuck seinen italienischen Kollegen vom Rauschgiftdezernat.
Nach kurzem Zögern fing Bertone an, zu erzählen.
„Er