Werner Rosenzweig

Mörderisches Bayreuth


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       Überraschung

       Warum?

       Behringer

       Nachwort

       Mord

      26. Februar

      Auf einem Hügel östlich der Stadt Bayreuth, im Norden und Osten durch den Flusslauf des Roten Main begrenzt, zieht sich das waldige Gelände der Eremitage dahin.

      Es war im Jahr 1616, als der damalige Markgraf Christian von Brandenburg-Bayreuth in den Besitz der ausgedehnten Waldflächen kam und diese als Jagdgebiet nutzte. Unter der Herrschaft seines Urenkels Georg Wilhelm, der bis 1726 das fränkische Fürstentum führte, regte sich dort emsige Bautätigkeit, die von 1715 an über die nächsten Jahrhunderte anhalten sollte. Einer der ersten auf dem Gelände errichteten Bauten war das Alte Schloss, das der Adelsfamilie als Sommersitz diente. 1720 entstand das heutige Monplaisir, einst Wohnhaus des Parkverwalters mit schlossartigem Charakter. Da Georg Wilhelm keinen männlichen Nachfolger zeugte, übernahm Markgraf Georg Friedrich Karl, aus einer Nebenlinie der fränkischen Hohenzollern stammend, ab 1726 die Amtsgeschäfte. Ihm folgte schon 1735 sein Sohn Friedrich, der acht Jahre an der calvinistisch geprägten Universität Genf studiert hatte.

      Vier Jahre zuvor war Friedrich über Hof und Leipzig nach Potsdam gereist, wo der preußische König Friedrich Wilhelm I. einen Hochzeitskandidaten für seine älteste Tochter Wilhelmine suchte. Eigentlich sollte sie, nach den Plänen ihrer Mutter, Königin von England werden. Doch es kam anders: Friedrich und Wilhelmine wurden im November 1731 getraut. Ein Jahr darauf schenkte Friedrich seiner Frau Monplaisir und als Wilhelmine 1735 dann ihren 24. Geburtstag feierte, vermachte er ihr die gesamte Eremitage. Bald schon begann Wilhelmine, das Gelände umzugestalten, und schuf jene Parklandschaft von rund 50 Hektar, die heute noch zu den schönsten Sehenswürdigkeiten Bayreuths gehört.

      Von 1749 bis 1753 entstand das Neue Schloss, bestehend aus einem Mittelbau, dem sogenannten Sonnentempel, mit vergoldeter Quadriga, die vom fackeltragenden griechischen Gott Apoll als Sinnbild der Sonne gelenkt wird. Links und rechts des kuppelgekrönten Sonnentempels schließen sich zwei halbkreisförmige Arkadengänge an, die Wilhelmine einst als Orangerie dienten. Darunter, durch Treppen abgestuft, liegt das obere Wasserbecken, auch Obere Grotte genannt, das mit mehreren Figurengruppen besetzt ist. Doch das sind längst nicht alle Gebäude und Gartenelemente, die im Laufe der Jahre das abwechslungsreiche Gelände schmückten: Heute stehen da das Ruinentheater und die Kaskade, die sich weg vom Alten Schloss den Hang hinabzieht. Ein alter Turm diente früher als Speicher, um die vielen Wasserspiele in Gang zu setzen. Auf dem Schneckenberg thront der Chinesische Pavillon. Hinzu kommen die Statue des Sokrates wie auch die Untere Grotte und die Drachenhöhle, die Allee nach Monplaisir, der Kanalgarten, eine Reihe von Brunnen und unzählbare versteckte Winkel zum Verweilen und um in der Stille der Natur Kraft zu tanken oder von der Muse geküsst zu werden.

      Heutzutage ist die Eremitage für jedermann frei zugänglich. Nicht nur die Einwohner Bayreuths nutzen den herrlichen Park für ausgedehnte Spaziergänge. Viele Reisebusse karren täglich Scharen von Touristen herbei, die sich erst in der weitläufigen Anlage verlieren, um sich dann doch an den markanten Punkten, spätestens aber im Parkrestaurant, wiederzutreffen. Auch Jogger schätzen die gepflegten Wege, die durch den Park führen.

      Ein junger, groß gewachsener und athletischer Mann, der erst kürzlich vom Niederrhein nach Bayreuth gezogen war und in der Stadt eine noble Dachterrassenwohnung sein Eigen nannte, nutzte das Gelände regelmäßig für seine sportlichen Aktivitäten. Jeden Mittwoch und Freitag kam er hierher, um seine zehn Kilometer abzuspulen – meist erst am Spätnachmittag, wenn der Hauptpulk der Touristen wieder verschwunden war. Auch heute fuhr er an der Königsallee seinen Mercedes die Auffahrt zu den öffentlichen Parkplätzen hinauf. Nur wenige Fahrzeuge leisteten dem 350 SL-Oldtimer in silbergrau-metallic Gesellschaft. Es war kurz vor 17:00 Uhr. In einer Dreiviertelstunde würde, dem Kalender nach, die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden sein. Theoretisch. Heute hatte sie sich eh den ganzen Tag nicht blicken lassen. Das lag an dem atlantischen Tiefausläufer Doris: Dicke, schwere Wolken segelten von einem heftigen, unangenehmen Wind getrieben, von Westen heran, entließen ihr gespeichertes Wasser in einem ständigen, alles durchdringenden Schnürlregen über ganz Oberfranken und setzten ihren Weg in Richtung Osten fort. Ein Scheißwetter. Wer konnte, blieb zuhause. Nicht so der attraktive Hobbysportler vom Niederrhein. Für ihn gab es kein schlechtes Wetter. Man brauchte nur die richtige Kleidung – in seinem Fall eine regelrechte Luxusausstattung: Seine Nike Air Laufschuhe waren hundertprozentig auf seinen Tritt und das Abrollverhalten seiner Füße abgestimmt. Seine orangefarbenen Laufshorts waren wasserabweisend. Unter seiner leichten, selbstverständlich atmungsaktiven Regenjacke trug er ein Vertical Funktionsshirt. Die Regencap lag auf dem Beifahrersitz.

      Der Jogger machte sich gar nicht erst die Mühe, seinen Mercedes auf einem der zahlreichen markierten Plätze abzustellen. Er steuerte den Wagen auf kürzestem Weg direkt an eine mit Bäumen und Büschen bewachsene Verkehrsinsel und stellte ihn dort, wo normalerweise die Touristikbusse parkten, auf dem Kopfsteinpflaster ab. Das einzige feste Gebäude schräg gegenüber, das wie ein quadratischer Pavillon aussah und eine Besuchertoilette beherbergte, wirkte trist und grau, doch es erlaubte den unmittelbaren Zugang zum Kanalgarten. Bevor der Mann aus seinem Wagen stieg, schaltete er seinen alten i-Pod ein, wählte „Wiedergabelisten“ und dann „Shuffle“ und ließ das kleine Gerät im Innern seines Regenschutzes verschwinden. Daraufhin stöpselte er die Kopfhörer in seine Ohrmuscheln, bedeckte den Kopf mit seiner Regencap und stieg aus. So ausgestattet machte er sich auf den Weg, den er immer nahm.

      Wir ziehen durch die Straßen und die Clubs dieser Stadt. Das ist unsre Nacht, wie für uns beide gemacht, oh oh, oh oh … stöhnte ihm Helene Fischer in die Gehörgänge. Er betrat den Park und hielt sich rechts des ovalen Wasserbeckens. Dann lief er hinüber zum langgestreckten Laubengang. Auf dieser kurzen Strecke ließ er es noch langsam angehen, nutzte sie, um seinen Körper aufzuwärmen, stoppte immer wieder und legte die ein oder andere Stabilisations- und Laufkraftübung ein. Atemlos durch die Nacht, bis ein neuer Tag erwacht … Er wusste, dass Laufen Muskeln, Sehnen und Gelenke herausforderte, den Herzschlag beanspruchte und den Wasserhaushalt des Körpers aus dem Gleichgewicht brachte. Schon vor Jahren hatte er herausgefunden, wie er schonend den Maximalwert seiner Herzfrequenz erreichte.

      Nun bog er scharf links ab und sprintete in vollem Tempo rund 200 Meter kerzengerade auf den Sonnentempel zu, den die Wassermassen von oben nahezu verschluckten. Die letzten Minuten war der Regen stärker geworden. Er prasselte heftig auf die Bäume und kahlen Hecken der barock angelegten Gartenflächen ein, die wie ein riesiges Labyrinth wirkten. Auf den Wegen bildeten sich die ersten Wasserlachen. Es spritzte nach allen Seiten, wenn der Jogger mit schnellen, kräftigen Schritten in sie hineinstapfte. Er folgte einem schnurgeraden Pfad bis zu seinem Ende, überquerte die geteerte Hauptallee, schlüpfte zwischen Sonnentempel und Orangerie hindurch, vorbei am großen Wasserbecken, und legte noch ein paar Übungen ein. Dann rannte er durch die Allee zum kleinen Schlösschen Monplaisir hinab. Die dicken Stämme der Bäume waren grau und schmucklos, wie überhaupt der gesamte Park zu dieser Jahreszeit. Überall auf dem Gelände waren die witterungsanfälligen Steinstatuen und Skulpturen mit Stahlrahmen überbaut, zwischen denen als Kälteschutz graue Plastikplanen gespannt waren.

      Kurz vor Monplaisir grüßte zwischen blattlosen Ästen der Chinesische Pavillon vom Schneckenberg herunter. Der Läufer wählte den Weg nach rechts in Richtung der Unteren Grotte, vorbei am Eremitenhaus, um dann über einen kleinen Anstieg auf das Alte Schloss zuzulaufen. Jetzt war er im Rhythmus, hatte seine Idealgeschwindigkeit gefunden. Vom Alten Schloss kommend, an dem langgezogenen Wirtschaftsgebäude vorbei, in dem die Schlossgaststätte untergebracht war, den alten Wasserturm hinter sich lassend, ging es rechterhand hinein in den Wald und in diversen Links-rechts-links-rechts-Bögen,