zu verdienen, anstatt ihr Bankkonto dafür anzuzapfen, gab Laila ein gutes Gefühl. Und es tat von Zeit zu Zeit auch gut, das Hotel der Eltern wiederzusehen, selbst wenn sie es sich nie hatte vorstellen können, in den Betrieb einzusteigen – eine Entscheidung, die sich mit jedem vergangenen Jahr ihres Studiums mehr bestätigte.
Sie ging ihren eigenen Weg. Sich finanziell derzeit wirklich keine Sorgen machen zu müssen, gab ihr zusätzlichen Rückenwind. Auch ein Auto besaß Laila nicht. Wenn sie unbedingt mobil sein musste, nahm sie die Bahn oder den alten Nissan Qashqai, den ihr der Kommilitone und Parteifreund Lorenz Kutscher meist problemlos überließ, sofern er das Fahrzeug nicht selbst brauchte. Nächstes Jahr, wenn sie 28 wurde, warteten 250.000 Euro auf sie. Eine Menge Geld, das sie auch schon früher hätte beanspruchen können, aber dann wäre es Manfred und den Zwillingen wohl unmöglich gewesen, die Modernisierung des Hotels anzugehen.
Laila war absolut dafür, dass ihre Brüder das Erbe erfolgreich fortführten. Deshalb stundete sie ihnen die Auszahlung der Viertelmillion um knapp drei Jahre. Wenn sie sich das heute so überlegte … wer verfügte schon mit 28 über so ein großzügiges finanzielles Polster? Aus dieser Sicht sprach auch nichts dagegen, mit dem Master weiterzumachen. Absolut gar nichts!
Laila hatte sich zum Ziel gesetzt, ihren persönlichen Beitrag für eine saubere Umwelt zu leisten. Ein anspruchsvoller Job in der Abfallwirtschaft, der Recycling- und Entsorgungsindustrie oder auch etwas Naturnahes, das könnte sie sich gut vorstellen. Laila konnte sehr wütend werden, wenn sie über den weltweiten Plastikmüll nachdachte, der die Weltmeere verseuchte und für den Tod so vieler kleiner und großer Meereslebewesen verantwortlich war. Auch der Wald litt. Das merkte sie, wenn sie im nahen Fichtelgebirge unterwegs war; immer mehr Fichten waren geschädigt, starben einfach ab. Laila liebte eine intakte Natur, kämpfte dafür, dass mehr Laubbäume wie Buchen und Eichen in den einheimischen Gefilden ihren erneuten Platz fanden. Sie waren einfach strapazierfähiger als Fichten, die in zu trockenen Sommern hohen Schaden nahmen. Und es wurde immer wärmer. Wer das nicht begriffen hatte, dem war nicht zu helfen. Die verlogene und betrügerische Autoindustrie hätte sie dazu so gerne an den Pranger gestellt. Sie verstand die machthabenden Politiker nicht. Dass die nicht härter gegen die ganzen Lobbyisten und Vorstände der betroffenen DAXUnternehmen vorgingen! Eine einzige Mauschelei. Beschämend. Wenn sie Bundeskanzlerin wäre … Verkehrsministerin täte es für den Anfang auch …
Aber erst kam die Bachelorarbeit. Hervorragend müsste sie werden. Wie immer hatte Laila alles perfekt geplant und rechtzeitig vorbereitet. Als erstes hatte sie sich die Zusage ihrer Lieblingsprofessorin eingeholt, ihre Arbeit zu betreuen, dann hatten sie zusammen das Thema besprochen und festgelegt: „Der Einfluss der Klimaerwärmung auf den deutschen Wald“. Als Laila das Inhaltsverzeichnis ihrer Abschlussarbeit zu Papier gebracht hatte, stimmte sie sich erneut mit ihrer Betreuerin ab. Die gab ihr noch den ein oder anderen wertvollen Hinweis, mit welcher Literatur sie sich auf jeden Fall befassen sollte. Mit „Mischwälder in Deutschland“
Wer Laila nicht kannte, hätte sie nun vielleicht für eine Streberin halten können, die nur ihr Studium im Kopf hatte. Dabei war sie nur sehr gut darin, Prioritäten zu setzen. Nie hatte man sie in den letzten Jahren mit jungen Männern angetroffen, obwohl die meisten von ihnen sich öfter als einmal nach ihr umdrehten, wenn sie in Bayreuth unterwegs war. Sie war eine außerordentlich hübsche junge Frau mit einer langen, glatten blonden Mähne, die ihr bis weit in den Rücken fiel. Ihre intelligenten grünen Augen versprühten Lebenslust und wenn sie lachte, bildeten sich links und rechts auf ihren Wangen kleine Grübchen, die sie auf Anhieb sympathisch wirken ließen. Mit schlanken ein Meter 75 besaß Laila eine Topfigur, an der kein einziges Gramm Fett störte.
Im Grunde waren ihre drei Brüder der Auslöser, weshalb ihr so selten der Sinn nach männlicher Bekanntschaft stand – beziehungsweise die Art, wie sie mit ihr in der Kindheit umgesprungen waren. Nicht, dass Manfred, Günther oder Karl sie je misshandelt hätten, niemals! Es war schlicht das überhebliche, chauvinistische Gehabe der älteren Brüder, das sich bei Laila übel eingeprägt hatte. Immer war sie die Kleine. Nie nahmen sie sie mit auf ihre abenteuerlichen Eskapaden. Sie störte nur. Sobald sie alt genug war, um im Haushalt mitzuhelfen, blieb alle Drecksarbeit an ihr hängen. Abspülen, Putzen, Einkaufen gehen und so weiter und so fort. Die Herren drückten sich, wo es nur ging. Nie hatten sie ein Lob für sie übrig, nie ein gutes Wort der Anerkennung. Wenn sie für jede herablassende Bemerkung, jede gemeine Stichelei und jeden schlechten Witz auf ihre Kosten einen Cent bekommen hätte, müssten Manfred und die Zwillinge ihr nächstes Jahr keine 250.000 Euro mehr zahlen, das wäre längst erledigt.
Auf solche Typen konnte sie verzichten. Leider liefen von dieser Sorte überall genug herum. Außerdem – sie hatte neben dem Studium und ihrer politischen Arbeit gar keine Zeit für das andere Geschlecht. Und dann war da ja noch ihre Aushilfsstelle im Hotel. Zum Glück hatte sich der Ton ihrer Brüder ihr gegenüber in den letzten Jahren deutlich verändert. Mochte sein, dass das früher wenig geschwisterliche Verhältnis einfach an der traditionellen Rollenverteilung der Geschlechter gelegen hatte? In der Welt herumstreifende Jungs gegen die braven Mädchen zuhause? Seit sie zur Frau gereift war, für sich selbst einstand und ihr Schicksal in neue Bahnen lenkte, war es deutlich herzlicher geworden. Manfred war gerade mal sieben Jahre älter als sie, die Zwillingsbrüder Günther und Karl fünf. Kein allzu großer Unterschied. Mittlerweile hatten sie alle eine Art Waffenstillstand geschlossen und Laila kam mit ihnen gut zurecht, vor allem mit Karl, dem ruhigsten der drei Rabauken.
Springer und Sturm
Vorletzte Juliwoche
Das Paar stammte aus der Gegend vom Niederrhein, er aus Xanten, sie aus Wesel. Es war das erste Mal, dass sie nach Franken reisten, der Bayreuther Festspiele wegen. Sie wussten, dass es so manchen Promi in der letzten Juliwoche auf den „Grünen Hügel“ trieb, so auch dieses Jahr wieder. Kanzlerin Angela Merkel hatte sich genauso angesagt wie die Showgröße Thomas Gottschalk und Fürstin Gloria von Thurn und Taxis. Knapp 75.000 Einwohner zählte die Stadt, sagte ihnen das Internet. Wie es mit den Hotelkapazitäten stand, wussten sie nicht genau, also hatten sie bereits im Januar im Hotel „Richard Wagner“ gebucht, die Siegfried-Suite sollte es sein. Die Homepage hatte einen guten Eindruck gemacht und beide waren einen gehobenen Hotelstandard gewohnt. Geld spielte keine besonders große Rolle, sie mussten nicht auf den letzten Pfennig achten.
Die Festspiele würden am 25. Juli mit „Tristan und Isolde“ beginnen. Das Stück war nichts für Heiko Springer und seine Begleiterin. Nicht, dass das Liebesdrama um den Königssohn und seine große Liebe Isolde ihn und Annalena Sturm nicht interessiert hätte, aber sie hatten sich dieses erste Mal in Bayreuth Größeres vorgenommen: die komplette vierteilige Inszenierung des „Ring des Nibelungen“.
Vor allem Heiko liebte das mittelalterliche Heldenepos, das Wagner als Vorlage für seinen Opernzyklus gedient hatte. Auf dem Schwarzmarkt hatte er Unsummen für die Eintrittskarten ausgegeben. Sie freuten sich.
Am Montag, den 27. Juli sollte der Vierteiler mit „Rheingold“ starten. Zwei Tage zuvor kamen Heiko und Annalena in Bayreuth an. Sie wollten die Gelegenheit nicht versäumen, sich neben dem Festspielhaus auch die anderen Sehenswürdigkeiten der oberfränkischen Metropole anzusehen. Ganz oben auf ihrer Liste stand die Parkanlage der Bayreuther Eremitage mit ihren vielen Wasserspielen, der schwungvollen Orangerie und dem Sonnentempel, auf dessen Kuppel Apoll, Gott des Lichts und der Musik, seine Rösser zum schnellen Lauf anspornte. Leider war das Markgräfliche Opernhaus – weitaus älter als das Festspielhaus und 2012 als UNESCO-Weltkulturerbe ausgezeichnet – nicht zugänglich, die Renovierungsarbeiten sollten sich noch über die nächsten drei Jahre hinziehen, hieß es. Wie die Eremitage war der barocke Bau ein Vermächtnis der Markgräfin Wilhelmine, Gattin des einstigen Markgrafen Friedrich von Brandenburg-Bayreuth und Lieblingsschwester von Friedrich dem Großen;