vorgenommen.
Die beiden 30-Jährigen waren auf den ersten Blick ein etwas seltsames, auf jeden Fall aber auffallendes Paar. Er schlank und einen Meter 89 groß, mit breiten Schultern, muskulösen Armen und schmalen Hüften, einem kantigen Gesicht und blonden Locken, die ihm bis in den Nacken fielen. Seinen aufmerksamen himmelblauen Augen entging nichts und die dunklen, langgebogenen Brauen gaben seinen Zügen eine gewisse Eleganz.
Nicht so seine Begleiterin. Sah man sie durch die Straßen Bayreuths flanieren, kam einem nicht unbedingt das Wort „Eleganz“ in den Sinn. Nicht, dass sie grobschlächtig oder gar korpulent gewesen wäre, auch sie hatte kein Gramm Fett zu viel am Körper. Dennoch stolperte so manch männlicher Blick über ihre breiten Schultern und die stahlharten Muskeln ihrer Oberarme und Waden, die ihr Sommerkleid frei ließ. Annalena war durchtrainiert. Kein Wunder, sie hatte sich seit frühen Teenagertagen der Leichtathletik verschrieben. Diskuswerferin. Beinahe hätte ihr Talent für die Aufnahme in den Kader des Nationalteams ausgereicht, doch mittlerweile war sie froh, einem Beruf mit gesichertem Verdienst nachzugehen und dem Sport nur in der Freizeit treu geblieben zu sein. Trotzdem fehlte ihrem Äußeren einfach die weibliche Leichtigkeit. Dazu kam ihr Blick: selten heiter, meistens hart und unnahbar, ein bisschen streng, man könnte auch sagen misstrauisch. Überhaupt wirkten ihre Gesichtszüge eher männlich. Annalenas herausragendstes weibliches Merkmal war ohne Frage ihr Busen. Sie trug ihn mit Stolz. Als Sportlerin war eine aufrechte Körperhaltung für sie selbstverständlich, sie lief fast schon mit einem Hohlkreuz herum und reckte ihre beiden Attribute unübersehbar von sich. Zu allem Überfluss trug sie meistens auch noch einen Push-up-BH, der ihre einzigen Rundungen aus jedem noch so züchtigen Ausschnitt quellen ließ.
Wie Heiko und Annalena genau zueinander standen, wussten nicht einmal ihre wenigen gemeinsamen Freunde und Bekannten. Waren die zwei ein festes Liebespaar oder schliefen sie nur miteinander, wenn es ihnen gerade gut in den Terminplan passte? Eine Art Zweckgemeinschaft, in der sich beide nicht unsympathisch fanden und sowohl Nähe als auch Flexibilität genossen? Niemand wurde aus ihnen so richtig schlau. Sei’s drum, es war ihr Leben. Solange sie miteinander auskamen und es ihnen gefiel … zumindest waren beide begeisterte Sportler und glühende Opernfans.
*
Als sich Heiko bei ihrer Ankunft in Bayreuth in das Anmeldeformular des Hotels „Richard Wagner“ eintrug, zögerte er für einen kurzen Moment.
Das Formular fragte ihn nach seiner Berufsbezeichnung … hmm, Börsenhändler, Finanzberater, Investor? Wenn sich seine steile Karriere weiter so hervorragend entwickelte, vielleicht bald schon Privatier?
„Ist doch egal, was ich reinschreibe“, sagte er sich und kritzelte schnell den „Finanzberater“ ins entsprechende Kästchen.
Da sollte er sich gewaltig täuschen. Die drei Kolb-Brüder interessierte es außerordentlich, wie ein Investor, Börsenhändler und Finanzberater sein Einkommen bestritt, und vor allem, wie er das seiner Kunden vermehrte.
Finanzielle Schieflage
26. Juli
Manfred, Günther und Karl waren ein eingeschworenes Team. Die einzige Person, die sie mit uneingeschränktem Vertrauen in ihre kleine Gruppe aufnahmen, war Dieter Kowalski. Ihr Halbbruder stand ihnen sehr nahe und wurde trotz seines jüngeren Alters von Anbeginn in alle wichtigen unternehmerischen Entscheidungen rund um das „Richard Wagner“ miteinbezogen.
Dieter war das Produkt eines Seitensprungs ihres längst verstorbenen Vaters Friedrich mit einer recht bekannten Opernsängerin am Festspielhaus. Die beiden waren sich nach einer erfolgreichen Inszenierung von „Rheingold“ vor knapp 30 Jahren zum ersten Mal nähergekommen. Das Ergebnis dieser Liaison – und der Grund, warum sich Ute und Friedrich Kolb schließlich trennten – war Dieter, der im selben Jahr wie Laila geboren wurde. Rein äußerlich geriet er ganz nach seiner Mutter, einer grazilen Person mit einer kräftigen Sopranstimme. Leider hatte diese bei aller Ähnlichkeit nicht das geringste Interesse an ihrem Kind, ebenso wie der Vater.
Während Friedrich Kolb seine Frau verließ, mit seiner Liebschaft um die Welt tingelte und das Leben genoss, bis ihn der Lungenkrebs ereilte, überließ er, herzlos wie er nun einmal war, seinen unehelichen Sohn den allgemeinen sozialen Diensten der Stadt Bayreuth. So verbrachte der Halbbruder von Manfred, Günther, Karl und Laila einen kläglichen Teil seiner Kindheit in den dafür vorgesehenen städtischen Einrichtungen. Dieter litt von Anbeginn unter der Einsamkeit, dem Ausgestoßensein. Oft kränkelte er.
Irgendwann konnte Ute Kolb nicht mehr mitansehen, wie der Junge litt. Die Jahre hatten den Schmerz über Friedrichs Betrug gemildert, Gras über die tiefe Kränkung wachsen lassen, also holte sie den außerehelichen Sohn ihres Mannes aus Mitleid aus dem Heim und plötzlich waren es fünf Kinder, die im Wohnhaus Kolb herumtobten.
Dieter blühte auf und dennoch hatte Ute das Gefühl, dass ihm etwas in seiner Entwicklung fehlte. Körperlich war er deutlich kleiner und schmächtiger als seine Halbbrüder, aber das war es nicht: Er war allzu sehr in sich gekehrt, strotzte nicht gerade vor Selbstwertgefühl. Um seine neu gefundene Familie baute er eine regelrechte Mauer, sprach von Dritten außerhalb dieses Kreises oft negativ und eine gehörige Portion Neid spielte in vielem, was Dieter tat, eine Rolle. Trotzdem war Ute beseelt davon, Dieter zu helfen und ihm den Weg in eine erfolgreiche Zukunft zu ebnen. Nach seinem Schulabschluss ermunterte sie ihn, eine solide Ausbildung zum Bankkaufmann anzugehen, während der er selbstverständlich sein Zimmer im ersten Stock behalten konnte und weiter am Familientisch willkommen war. Eine tolle Frau. Noch heute war Dieter seiner Ziehmutter und auch seinen Halbgeschwistern unendlich dankbar, dass sie ihn so unproblematisch aufgenommen hatten. Mit zunehmendem Alter hatte er sich geschworen, ihnen die große Unterstützung zurückzuzahlen. Loyalität seiner Familie gegenüber war für ihn deshalb kein Fremdwort, sondern eine Selbstverständlichkeit, ja geradezu ein Mantra – vor allem nachdem ihm Manfred, Günther und Karl auch noch den Posten als Finanzdirektor ihres Hotels anvertraut hatten.
Als er sich mit ihnen das erste Mal über die Finanzierung der anstehenden Renovierungskosten beriet, schlug er vor, die Auszahlungsverpflichtung, die sie ihrer Schwester gegenüber hatten, in die Bilanz der Kommanditgesellschaft einzustellen. „Wir könnten die Schuldverhältnisse aktivieren. Das wäre nach den Prinzipien der kaufmännischen Vorsicht korrekt“, waren seine Worte.
„Was bedeutet das genau?“, wollte Manfred wissen.
„Nun, nach den Paragrafen 268, Absatz 5, Satz 1, und 285, Nummer 1, des Handelsgesetzbuches müsstet ihr eine Verbindlichkeit einstellen. Die schmälert natürlich eure Vermögensposition.“
„Ich versteh nur Bahnhof“, meinte Günther und Karl nickte dazu energisch.
„Könnte das negative Auswirkungen auf die Beschaffung des Kredits haben, den wir für die Renovierung brauchen?“ Es war Manfred, der den Braten roch.
Dieter zog die Stirn in Falten. „Könnte durchaus sein“, antwortete er. „Es wird jedenfalls nicht einfacher. Aber im Rahmen einer Kommanditgesellschaft seid ihr neben eurer Kapitaleinlage sowieso auch mit eurem gesamten Privatvermögen gesamtschuldnerisch haftbar.“
Dann erklärte er ihnen, was es bedeutete, Komplementär und Kommanditist zu sein, und dass die Haftung von Gesellschaftsverbindlichkeiten im Außenverhältnis durch den Gesellschaftsvertrag sowieso nicht begrenzt werden konnte.
„Dann ist es doch Wurst, ob wir mit der Verbindlichkeit an Laila die Bilanz belasten und damit – wenn ich es richtig verstanden habe – auch die Finanz-, Vermögens- und Ertragssituation unserer Kommanditgesellschaft oder ob wir die 250.000 Euro als private Schuld außerhalb der Geschäftsbücher betrachten. Das heißt“, korrigierte sich Manfred selbst und hob einen Zeigefinger, „es ist doch nicht Wurst. Wenn ich so drüber nachdenke, wäre es mir doch lieber, wenn unsere Bilanz nicht damit belastet wird, auch wenn die Zahlung an Laila der Höhe und dem Grund nach feststeht.“
Manfred war schon immer der Zampano der Familie, vor allem seit ihrer aller Mutter verstorben war. Immer gab er den Ton an und seine Geschwister kuschten, weil sie wussten, dass Diskussionen keine Aussicht