„Heute ist … es ist … ich weiß es nicht. Der Tag unserer Hochzeit, also der 17. November.“ Daraufhin schaute sie ihm lange in die Augen. Beide sagten sie nichts, und sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so schutzlos und verwundbar gefühlt hatte.
„Wir haben gerade eben draußen am Hafen gesessen, Lucy. Hat sich das für dich wie November angefühlt?“
Sie überlegte angestrengt, konnte sich aber schon nicht mehr daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte. Hatte sie gefroren?
„Es ist nicht November, Lucy, sondern Juni.“
Sie schüttelte den Kopf. Nein, das konnte unmöglich sein. Sie hatte doch gerade ihre Wohnung für Thanksgiving dekoriert. Sie hatte die festliche Tischdecke herausgeholt und die braunen Kerzen und den großen Plüschtruthahn, der Truthahngeräusche machte, wenn man ihm auf den Bauch drückte. Den hatte Zac ihr vor ein paar Tagen geschenkt, und sie hatten beide so gelacht über das alberne Geräusch.
Er hielt ihr jetzt die Zeitung vor die Nase, und sie musste sich richtig anstrengen, um das Datum darauf zu erkennen. Es war der 15. Juni eines Jahres, an dessen Beginn sie sich nicht einmal erinnerte.
In ihrem Kopf drehte sich alles, ihr wurde heiß, und sie merkte, wie ihr im Nacken der Schweiß ausbrach. Sie wünschte, die Schwester würde kommen und die Dosis ihres Medikamentes gegen die Panik verdoppeln, denn allem Anschein nach ließ die Wirkung gerade nach.
„Jetzt beruhige dich doch …“, sagte Zac.
„Mir fehlen sieben Monate? Sieben Monate?“ Bei diesem Gedanken wurde ihr noch schwindeliger. Was war in diesen sieben Monaten passiert?
Ihr wurde eng um die Brust, und sie massierte die Stelle mit der Hand, wo es richtig wehtat. „Wir haben Schluss gemacht?“, fragte sie noch einmal ungläubig.
„Ja“, antwortete er darauf nur kurz und knapp.
Er war das Einzige, was in ihrem Leben jemals richtig gut gelaufen war, das Einzige, ohne das sie nicht leben konnte. Ihr Blick fiel auf das Brautkleid.
„Aber wenn wir gar nicht mehr zusammen sind, wieso habe ich denn dann ein Brautkleid angehabt? Kannst du mir das sagen?“
Sein Mund war schmal wie ein Strich, als er antwortete: „Nein, ich weiß es nicht.“
„Aber das kann nicht sein. Du denkst dir das alles doch nur aus, oder?“
„Warum sollte ich das denn tun, Lucy?“, entgegnete er mit beinah tonloser Stimme.
„Wir sind doch verlobt!“, brach es aus ihr heraus.
„Sind wir das wirklich, Lucy? Wo ist denn der Ring, den ich dir gegeben habe?“
„Na hier“, antwortete sie, hielt ihre Hand hoch und sah den Ring, den sie am Finger hatte, zum ersten Mal. Einen Ring mit einem Diamanten, und zwar einem sehr großen – jedenfalls nicht der Verlobungsring von Zac.
Sie stieß eine Art Wimmern aus und wurde wieder von Panik erfasst. „Was ist hier eigentlich los?“, fragte sie verzweifelt.
In dem Moment kam ein Pflegehelfer herein und sagte: „So, ich bringe Sie jetzt in die Radiologie zum CT.“ Er arbeitete schnell und umsichtig, kontrollierte noch einmal Lucys Personalien und kümmerte sich um die Infusion, bevor er das Bett in Bewegung setzte.
Lucy drehte sich noch einmal zu Zac um, und ihre Blicke begegneten sich. Reglos und mit versteinerter Miene stand er da, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Und dann war er genau so schnell verschwunden wie ihr Gedächtnis.
VIER
„Was ist denn das Letzte, woran Sie sich erinnern, Miss Lovett?“
Es war Mitternacht, und der Arzt stellte ihr jetzt seit etwa zehn Minuten Fragen, aber ihre Gedanken waren so verschwommen. Das CT sei in Ordnung, und auch sonst sähe alles gut aus, hatte er gesagt. Aber wieso konnte es gut aussehen, wenn es das doch eindeutig nicht war?
Der Arzt war etwa Mitte dreißig, hatte wirres dunkles Haar, blaue Augen und trug eine Nickelbrille. Irgendwie hatte er Ähnlichkeit mit Harry Potter. Wie konnte es sein, dass sie sich an Harry Potter erinnerte, aber nicht an den Verlust des einzigen Mannes, den sie je geliebt hatte? Wie konnten ihr sieben Monate ihres Lebens einfach fehlen? Sie hatte einen Freund – sogar einen Verlobten –, an den sie sich nicht erinnern konnte. Was hatte sie in den letzten sieben Monaten gemacht? Wo hatte sie gelebt?
„Lucy …?“, sprach Zac sie jetzt mit leichter Ungeduld an. „Das Letzte, woran du dich erinnerst.“
Sie räusperte sich und dachte intensiv nach. „Also, wir sind vom Roadhouse – Zacs Restaurant – zu Fuß nach Hause gegangen. Es war kalt. An der Haustür haben wir uns voneinander verabschiedet.“
Ganz plötzlich blitzte eine Erinnerung auf, und sie sah Zac an. „Du hast noch den Kürbis hochgehoben, der als Deko vor der Haustür steht, und hast getan, als könnte er reden.“
Sie hatte gelacht über seine Mätzchen und war erleichtert gewesen, wenigstens wieder ein bisschen den Zac zu erleben, den sie kannte. Seit dem Tod seines Vaters wirkte er eigentlich ständig bedrückt.
Er hatte den Kürbis wieder hingestellt, sie in die Arme genommen und gesagt, er könne es gar nicht erwarten, den Rest seines Lebens mit ihr zu verbringen.
Jetzt suchte sie seinen Blick und sah darin, dass auch er sich daran erinnerte, aber er schaute ganz schnell weg.
„Wie lange ist das her?“, fragte der Arzt Zac, ohne zu merken, wie angespannt die Atmosphäre im Raum war.
„Das war Ende Oktober“, antwortete Zac.
Der Arzt klappte die Patientenkarte zu und sagte dann: „Also … Sie haben offenbar eine schwere Gehirnerschütterung erlitten mit einer retrograden Amnesie. Das heißt, die Ursache für ihren Gedächtnisverlust ist eine Kopfverletzung.“
„Wird ihre Erinnerung zurückkommen?“, fragte Zac.
Der Arzt zuckte mit den Schultern und antwortete: „Das ist möglich, aber eine Garantie gibt es dafür nicht. Das ist von Fall zu Fall verschieden. Manchmal hilft es, wenn die betroffene Person sich in einer vertrauten Umgebung aufhält, in Gesellschaft von Menschen, die sie kennt. Manchmal hilft aber auch das nicht. Ich würde sie gerne eine Nacht zur Beobachtung hierbehalten …“
„Nein, Doktor“, widersprach Lucy vehement. Sie konnte gar nicht schnell genug hier wegkommen. „Ich möchte nicht bleiben. Ich muss nach Hause. Sie haben doch gesagt, das CT sei in Ordnung, oder?“
„Ja, völlig normal. Und ich habe auch nichts dagegen, Sie nach Hause zu entlassen, aber nur, wenn in den nächsten 24 Stunden sichergestellt ist, dass jemand bei Ihnen ist.“
Sie warf Zac einen flehenden Blick zu. Nicht einmal große Mengen Beruhigungsmittel hätten sie dazu bringen können, hierzubleiben.
Zacs Blick wurde wieder angespannt, und ein Muskel an seinem Kinn zuckte. „Also gut“, sagte er schließlich.
„Sie müssen Sie heute Nacht alle zwei Stunden wecken. Sie braucht viel Ruhe und darf sich nicht anstrengen, bis die Symptome wieder weg sind. Ich verschreibe ein Schmerzmittel gegen die Kopfschmerzen und etwas gegen die Übelkeit. Die Schwester gibt Ihnen noch ein paar Verhaltensrichtlinien mit auf den Weg, und bitte vereinbaren Sie unbedingt einen Kontrolltermin bei Ihrem Hausarzt.“
„Und was ist mit meinem Gedächtnis?“, fragte Lucy. „Wird es zurückkommen?“
Der Blick des Arztes ging erst zu Zac, dann wieder zu ihr, und daraufhin sagte er: „Wir müssen abwarten. Versuchen Sie, sich darüber keine allzu großen Sorgen zu machen, sondern ruhen Sie sich aus,