Thea Lehmann

Dunkeltage im Elbsandstein


Скачать книгу

hinunter auf die kleine Dame in Kittelschürze und Strickjacke, die ihn an seine Oma erinnerte.

      »Genau die, und nun kommen Se schon, die Sebnitzer Polizei ist schon dahin gelaufen. Ich hab denen gesagt, ohne de Kripo aus Dresden sag ich nix!« Sie drehte sich um und marschierte die Straße entlang, die beiden Kripobeamten resolut hinter sich her winkend, damit die endlich in die Gänge kämen.

      »Na, das kann ja heiter werden«, sagte Leo.

      Sie folgten Helga Dünnebier zuerst entlang der Straße, dann in einen Feldweg, anschließend nach links zu einem Abzweiger und sahen schließlich kurz vor dem Waldrand einen schwarzen BMW auf einem kaum noch zu erkennenden Weg an der abschüssigen Wiese stehen. Hinter dem Wagen war anscheinend das halbe Dorf versammelt, denn da tummelten sich gut und gerne zwanzig Leute, vor allem ältere Herrschaften, aber auch ein paar junge Mütter mit kleinen Kindern waren dabei. Eine junge Frau warf sich gerade in Pose, um mit ihrem Smartphone ein Selfie mit Leiche zu schießen. Dabei lehnte sie sich über die Absperrung, die mehrere Polizeibeamte bereits um den Wagen und den Toten aufgebaut hatten.

      »Das ist jetzt nicht wahr, oder?!«, kommentierte Leo den Menschenauflauf.

      Auch Hauptwachtmeister Kopischke hatte das nicht komisch gefunden. Als er vor einer halben Stunde mit seinen Leuten am Tatort angekommen war, hatten bereits jede Menge Schaulustige herumgestanden und Fotos geknipst. Überall in der nassen Wiese waren Spuren von Kinderwagen eingegraben. Energisch hatte Kopischke die Menschen auseinandertreiben müssen, damit seine Leute das Gelände um den Toten absperren konnten.

      Als Helga Dünnebier mit den beiden Kripobeamten auftauchte, nahm er sich die alte Dame zur Brust.

      »Uns wollten Sie erst nicht sagen, wo der Tote liegt, aber dem halben Dorf haben Sie verklickert, dass hier die Leiche zu finden ist. Das ist Behinderung der Polizeiarbeit, Frau Dünnebier. Alle Spuren sind zertrampelt und wer weiß, was die Leute alles angefasst haben. So geht das nicht!«

      Helga Dünnebier war sich keiner Schuld bewusst. »Ich hab denen allen gesagt, dass se erst kommen sollen, wenn de Polizei da is«, verteidigte sie sich. »Kann ich doch nix dafür, wenn die so lange brauchen.« Ihr strafender Blick fiel auf Leo und Sascha.

      »Wenn Sie in Sebnitz angerufen hätten und nicht in Dresden, wären wir innerhalb von fünfzehn Minuten da gewesen«, blaffte Kopischke zurück. »So ein Fundort muss abgeriegelt werden!«

      »Hast du das gehört, Heinrich?« Der zuckte trotz des scharfen Tons seiner Frau mit den Schultern, als ginge ihn das alles nichts an.

      Manni Tannhauser traf wenige Minuten später ein. Er und sein Team machten Fotos und versuchten, noch verwertbare Spuren zu finden. Leo und Sascha sahen sich inzwischen den Toten genauer an. Es war ein junger, dünner Mann mit auffälligen, weißen Cowboystiefeln und einer schwarzen Lederjacke mit Fransen. Er lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht. Sein rechtes Bein war in einem unnatürlichen Winkel verdreht, die Jeans war allerdings kaum blutig, obwohl es sich um einen offenen Bruch handeln musste. Gesicht und Hals des Mannes zeigten mehrere blaue Flecke. Eine eindeutige Todesursache war nicht festzustellen. Leo schätzte den Mann auf etwa fünfundzwanzig Jahre, vielleicht war er auch jünger, denn in seinem Gesicht sah man neben den Blutergüssen auch einige Akne-Pickel.

      Ein Leichenwagen kam nun auf dem Feldweg angerumpelt.

      »Kommt Dr. Gräber noch?«, frage Leo den Chef der Spurensicherung. Tannhauser schüttelte den Kopf. »Der Doc ist auf einer Schulung, wir müssen selber ran.«

      Leo zog sich Latex-Handschuhe über und suchte in den Taschen des Toten nach etwas, das ihn identifizieren könnte. Beim ersten Griff in die Jacke wurde er fündig. Er förderte eine feuchte Brieftasche mit diversen Ausweisen von Videotheken, reichlich Bargeld und einem deutschen Führerschein zutage. »Dirk Schmidt«, las er vor. Auch die Videothek-Ausweise lauteten auf diesen Namen. Sascha übernahm die Brieftasche und gab per Handy ans Kommissariat den Namen und eine erste Personenbeschreibung durch.

      Leo inspizierte derweil weiter die Kleidung des Toten. In der Gesäßtasche seiner Jeans fand er ein durchsichtiges Plastiktütchen mit Spuren einer weißlichen, klebrigen Masse und ein Mobiltelefon.

      »Das müssen wir untersuchen lassen«, sagte er zu dem Polizeibeamten, der neben ihm kauerte. »Sieht nach Rauschgift aus.« Der nickte und ließ das Tütchen in einem sterilen Beutel verschwinden. Das Telefon war klitschnass und mausetot. Vielleicht konnten es die Künstler von der Technischen Abteilung wieder zum Leben erwecken.

      Als die Kollegen von der Spurensicherung den Leichnam anhoben, gab es ein saugendes Geräusch. Unter dem Bauch des Mannes hatten sich Schnecken, Regenwürmer und anderes Getier versammelt. Die Totenstarre begann sich schon wieder zu lösen.

      »Hm, ich bin kein Pathologe«, sagte Leo, »aber das sieht so aus, als ob der Mann schon mindestens zwei Tage hier herumliegt.«

      Er wandte sich an die umstehenden Dörfler, die immer noch gebannt zuschauten, was die Polizisten trieben.

      »Ist das hier ein Weg, auf dem viele Leute unterwegs sind?«

      Einige schüttelten den Kopf. »Nee«, sagte ein älterer Herr. »Hier geht selten jemand lang. Da vorne is ja auch schon Schluss.«

      Leo richtete seinen Blick in die angezeigte Richtung, und tatsächlich endete der Weg in der steil abfallenden Wiese, die ein Stück weiter unten vom Waldrand begrenzt wurde.

      Die Leiche wurde fotografiert und schließlich abtransportiert, in die gerichtsmedizinische Abteilung von Dr. Gräber. Wo sie gelegen hatte, war der Boden immer noch nass und voller Regenwürmer.

      Sascha kam wieder, immer noch mit dem Telefon am Ohr. Er klappte es schließlich zu und meinte: »Weder der Name Dirk Schmidt noch das Kennzeichen sind aktenkundig. In der Zentrale prüfen sie noch, wo das Auto angemeldet ist und wo dieser Dirk Schmidt wohnt.«

      Den schwarzen BMW fanden die Beamten unverschlossen vor. Auf dem Beifahrersitz lagen mehrere Fastfood-Verpackungen, die Rückbank war leer.

      Die Sebnitzer Polizisten lotsten inzwischen den Abschleppwagen über den schmalen Feldweg, der den BMW in die Spurensicherung bringen würde.

      »Irgendwie passt hier nichts zusammen«, sagte Leo zu Sascha. »Ein toter junger Mann mit einer dicken Brieftasche liegt ein ganzes Stück vor einem unverriegelten Auto. Das sieht weder nach einem Überfall noch nach einem handfesten Streit aus. Was wollte er in dieser abgelegenen Gegend auf einem noch abgelegeneren Feldweg?« Er sah auf und betrachtete die sanft geschwungenen Bergrücken in der Ferne.

      »Die Aussicht hier ist ja ganz schön, aber das war wohl kaum der Grund für ihn hierher zu kommen. Woran ist er gestorben? Und wer oder was hat sein rechtes Bein zerschmettert?«

      Seufzend schaute er um sich. Außerhalb der Absperrung trampelten die Schaulustigen die vom Vortag noch feuchte Wiese platt. Wenn da jemals Spuren gewesen waren, konnte man die getrost abschreiben.

      »Hat jemand von Ihnen am Samstag oder Sonntag irgendetwas Auffälliges beobachtet?«, rief er in die Traube von Menschen.

      Alle verneinten. Aber das überraschte ihn nicht. Auf eine so vage Frage konnte man keine vernünftige Antwort erwarten.

      »Hat jemand von Ihnen diesen schwarzen BMW am Samstag oder Sonntag hierherfahren sehen?«, versuchte er es noch mal.

      »Ich wohne in der Parkstraße. Am Samstagnachmittag ist da ein sandfarbener Geländewagen hinter gefahren«, sagte eine junge Frau mit Kinderwagen. »Um welche Uhrzeit, wissen Sie das noch?«, fragte Leo nach. Sie überlegte. »So gegen drei vielleicht. Mein Kleiner ist da gerade wieder aufgewacht«, sagte sie. Sascha notierte ihren Namen und ihre Telefonnummer. Dann nahmen sie sich Helga Dünnebier vor.

      »Wann genau haben Sie den Toten gefunden?«

      »Na, so gegen viertel elf würd ich sagen. Da kam ich gerade vom Pilzesuchen zurück«, antwortete sie und straffte ihren krummen Rücken.

      »Also zehn Uhr fünfundvierzig«, folgerte Leo.

      »Nein, zehn Uhr fünfzehn«, verbesserte ihn Sascha.