dass er ihn bequem in die Ruinenkeller werfen konnte. Wahrscheinlich ein Lustmörder. Zeiten waren das. Da war der Krieg vorbei, und dennoch lebte man weiterhin in Angst und Schrecken.
Hertha Stöhr war 62 Jahre alt und Kriegerwitwe. Wegen ihres Asthmas war sie frühzeitig in Rente gegangen. Sie hatte ein Leben lang bei der AEG gearbeitet, zuletzt als Stenokontoristin. Dort war sie sehr beliebt gewesen und wurde noch immer zur Weihnachtsfeier eingeladen. Wie heute auch. Deshalb war sie so spät noch unterwegs.
Sie wohnte im Hause Kantstraße 154a, das war auf der südlichen Seite der Straße, fast an der Ecke Fasanenstraße, ganz in der Nähe der zerstörten Synagoge und schräg gegenüber vom Delphi-Kino und dem Theater des Westens. Eine gutbürgerliche, zuweilen schon noble Gegend war das, und sie hatten sich das leisten können, weil ihr Mann als Bankbeamter nicht schlecht verdient hatte. Wenn auch vier Treppen hoch, wo die Miete etwas günstiger war. Aber immerhin. Dreieinhalb Zimmer, Küche und Bad. Ihre Mutter war am Bayerischen Platz ausgebombt worden und wohnte nun bei ihr. Im früheren Herrenzimmer. Im halben Zimmer schlief sie, und das große Wohnzimmer teilten sie sich. Das ehemalige Schlafzimmer konnte sie vermieten. So kam man ganz gut über die Runden.
Endlich hatte sie die Haustür erreicht. Bevor sie die Schlüssel aus der Tasche zog, sah sie sich nach allen Seiten um. Ob nicht ein Unhold auf sie zugestürzt kam? Nein. Sie schloss auf und drückte auf den Lichtschalter. Gott sei Dank gab es keine Stromsperren mehr. Vier Stockwerke hoch. Und das bei ihrem Asthma. Von ihrem Körpergewicht ganz abgesehen. Auch die Hungerjahre hatten sie kaum abmagern lassen. Sie war eben ein guter »Futterverwerter«. Also dachte sie mit Schrecken an den mühsamen Aufstieg. Wie gern hätte sie einen Fahrstuhl gehabt! Zwischen dem zweiten und dritten Stock hatte sie sich auf halber Treppe einen Stuhl hingestellt, um immer ein wenig verschnaufen zu können. Den dritten schon, die ersten beiden waren ihr geklaut worden. Dieser nun war mit einer Kette an der Wand befestigt.
Im Treppenhaus traf sie Frau Schütz, die Portiersfrau, auf Berlinisch: die Portjesche. Maria Schütz wohnte im ersten Stock und stand im Ruf, ein jedes Mal, wenn sie Schritte hörte, zum Türspion zu eilen und zu sehen, wer das Haus betreten hatte oder gerade verlassen wollte. Männer, die spätabends Damenbesuch nach Hause bringen wollten, hielten die Hand vor das tückische gläserne Auge in der Türfüllung, und die Kinder machten sich den Spaß, das Ding immer wieder zuzukleben. Andere freuten sich darüber, dass die Schütz so wachsam war. Gerade jetzt, wo so viel passierte. »Wer nichts zu verbergen hat, der braucht sich auch nicht aufzuregen.« Unglücklicherweise war die Portiersfrau geistig nicht besonders helle, manche meinten auch, sie hätte die Stufe zum Schwachsinn lange überschritten. »Die hat doch ’n Dachschaden, seit sie im Krieg einen Tag lang verschüttet gewesen ist.« Das brachte ihr auch einen »Freifahrschein« ein, wenn die Phantasie wieder einmal mit ihr durchging und sie den Mietern der Kantstraße 154a etwas andichtete, was gar nicht stimmte: dass jemand klaute oder andauernd betrunken war, Kinder in die Wohnung lockte oder ein abgetauchter Obernazi war.
»Guten Abend, Frau Schütz. Na, wie geht’s?« Hertha Stöhr war im Umgang mit der Schütz immer sehr vorsichtig. »Wieder viel Arbeit gehabt? Zum Glück war es ja mit dem Schnee noch nicht so schlimm dies Jahr.«
Die Portiersfrau sang erst einmal Schneeflöckchen, Weißröckchen, dann erklärte sie, dass sie nichts lieber habe als frisch gefallenen Schnee. »Da sieht man immer die Spuren: wer gekommen ist, wer gegangen ist.«
»Herzlichen Dank auch, dass Sie immer so gut auf alles aufpassen.«
»Jetzt erst recht, wo sich der Mörder hier in Berlin herumtreibt.«
»Hören Sie bloß auf!« Hertha Stöhr schüttelte sich.
»Stellen Sie sich mal vor, Sie liegen so zerstückelt in ’ner Ruine rum. Was das für’n Gefühl sein muss.«
Hertha Stöhr machte, dass sie weiterkam. »Ja, einen schönen Abend dann noch.« Immerhin hatte sie beim Plausch mit der Portiersfrau Atem holen können, so dass sie diesmal ihren Rastplatz nicht brauchte. Ihre Mutter, in diesem Jahr achtzig Jahre alt geworden, stand lauernd auf dem Flur und hatte die Tür schon geöffnet, lange bevor sie oben war.
»Hertha, bist du’s?«
»Nein, Mutter, mein Geist«, schnaufte sie.
»Hast du wieder getrunken?«
»Nur zwei Flaschen Weinbrand.«
»Kind!«
Hertha Stöhr stöhnte leise. Ihre Mutter vergaß immer wieder, dass »ihr Kind« nun selber schon Rentnerin war, und machte ihr jeden Tag dieselben Vorhaltungen. Hertha Stöhr küsste sie nur kurz auf die Wange und wollte sich dann an ihr vorbeischlängeln, um ihren Mantel aufzuhängen. Doch ihre Mutter hielt sie fest.
»Hertha, sieh mich an. Hast du dich wieder mit diesem Walter Kusian herumgetrieben?!«
»Mutter, ich war bei der AEG-Weihnachtsfeier.«
»Dieser Kusian ist ein böser Mensch. Man muss nur mal in seine Augen sehen. Ich erkenne jeden Menschen, wenn ich ihm in die Augen sehe.«
»Und wenn du seinen Personalausweis siehst, weißt du auch, wie er heißt.«
»Wie bitte?« Sie konnte ihrer Tochter nicht ganz folgen. »Ich habe dir doch verboten, dich mit diesem Kusian einzulassen.«
»Mutter, ich habe mich nicht mit ihm eingelassen, er hat mir nur einmal Brennholz gebracht. Balken aus den Ruinen, die er mit abgeräumt hat.«
»Und was hast du ihm dafür gegeben?«
Sie nahm ihre Mutter weiter auf den Arm. »Natürlich das, womit man Männer immer glücklich machen kann.«
»Kind!« Adelheid Nauendorf, frühere Katechetin, war entsetzt. »Ich muss mich deiner wirklich schämen. Obwohl du ein erwachsener Mensch bist, aber so etwas. So eine Schande. Lieber wäre ich erfroren.«
»Wieso ist es eine Schande, wenn man jemanden mit Zigaretten bezahlt? Ich rauche nicht, du rauchst nicht …«
»Wirklich nur mit Zigaretten?«
»Mutter, ich schwöre es dir.« Damit war diese Plänkelei beendet. Aber es war bestimmt noch nicht die letzte an diesem Abend. »Komm ins Zimmer, ich koche Tee, und dann machen wir’s uns gemütlich. Wir können Radio hören …«
»Ja: Mach mit.« Das war ein buntes Unterhaltungsquiz mit Ivo Veit, das eigentlich alle hörten.
»Das gibt’s erst morgen, am Sonnabend.« Sie blätterte im Telegraf, der Tageszeitung, die sie abonniert hatten. Doch ihre Mutter hatte, wie sich alsbald herausstellen sollte, die Seite mit dem Radioprogramm zum Feueranmachen verwendet.
»Ich geh’ nachher mal alle Sender durch.« Das waren auf der Mittelwelle aus dem Westen der RIAS und der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) und aus dem Osten der Berliner Rundfunk, der allerdings auch aus dem Westsektor sendete, aus dem Funkhaus an der Masurenallee unter dem Funkturm. »Vielleicht gibt es irgendwo etwas Spannendes.«
»Nein, da krieg’ ich nur noch mehr Angst. Vielleicht liegt bei uns im Keller auch schon eine Leiche.«
»Ja, da liegt eine tote … Ich hab’ Frau Schütz aber gestern schon gebeten, sie wegzuschaffen.«
»Eine Tote bei uns im Keller?«
»Ja, eine tote Ratte.«
Auf der Anrichte lag eine Traueranzeige. Am 12. November 1949 war die neue Untermieterin eingezogen und hatte sie wenig später hereingereicht. Plötzlich und unerwartet verschied unsere liebe Mutter … Die trauernden Hinterbliebenen Elisabeth Kusian, Dr. med. Charlotte Kühnel geb. Kusian, Studienrat Dr. Karl-Hermann Kusian, Prof. Dr. Johannes Kusian. Hertha Stöhr fragte ihre Mutter, warum sie die schwarz umrandete Karte immer wieder aus dem Schubfach nehmen würde. Weil das alle so »hochmögende« Menschen seien, die da trauerten.
»Ja, Hertha, mit der Frau Kusian haben wir einen guten Fang gemacht. Eine Krankenschwester im Haus ist wirklich Gold wert. Als ich neulich meinen Angina-Pectoris-Anfall hatte, da