Horst Bosetzky

Der kalte Engel


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hatte er so seine Zweifel, denn wenn es wirklich an dem gewesen wäre, hätte sie nicht hier gestanden. Außerdem sah er Furchen in ihrem Gesicht, die viel verrieten: von Ausschweifungen, von Fleischeslust und Wollust. Sein Vater hatte ihn immer vor Frauen wie dieser gewarnt: »Junge, sie saugen dir das Mark aus den Knochen und treiben dich in die Pleite, denn sie kosten und kosten.« Nun, wenn dem so war, konnte es nur einen Köder geben: Geld. Und so beugte er sich ein wenig zu ihr hin. »Ich sehe, dass Sie finanzielle Sorgen haben. Da kann man leicht Abhilfe schaffen …«

      »Ich bin doch keine Nutte!« Damit ließ sie ihn stehen, bog um die Ecke und lief mit schnellen Schritten die Kantstraße hinauf.

      Gregor Göltzsch nahm seinen Mantel vom Haken, schlüpfte hinein, schloss seinen Laden ab und folgte ihr. Er hatte früher als Schürzenjäger gegolten und sich den sicheren Instinkt dafür bewahrt, ob eine Frau zu haben war oder nicht. Bei dieser hier war er sich absolut sicher. Dieses Flackern in den Augen, diese Gier nach stürmischer Umarmung. »Die will einen drin haben«, dachte er. »Die hat es genauso nötig wie ich.« Er war wild entschlossen, sich diese Beute nicht mehr entgehen zu lassen. Sie mochte einen Vorsprung von etwa achtzig Metern haben. Das war nicht viel. Hinter der Fasanenstraße würde er sie eingeholt haben. Und dann …

      Mit jedem Schritt wurde er ein anderer Mensch. Eine dunkle Macht gewann mehr und mehr die Herrschaft über ihn und bestimmte sein Tun. Er hörte keine Stimmen, die ihm Befehle gaben, und es war ihm völlig rätselhaft, woher die Impulse kamen, die ihn von nun an steuerten: Hol sie ein, geh mit ihr nach oben auf ihr Zimmer, wirf sie zu Boden, würge sie, nimm sie, töte sie! Das ist die höchste Lust, die du erleben kannst.

      Er wehrte sich dagegen. Ich bin glücklich verheiratet, Anfang nächsten Jahres bin ich Vater und … Es half nichts. »Herr, hilf mir, rette mich vor mir selber!« Er war streng religiös erzogen worden und hoffte, der Herr würde jetzt etwas geschehen lassen, das ihn noch aufhielt: dass die Ruinen vor ihm in sich zusammenstürzten und ihm die Trümmer den Weg verstellten, dass ein amerikanischer Jeep neben ihm hielt und ihn die Military Police nach seinem Ausweis fragte, dass er ausglitt und sich das Handgelenk brach … Doch nichts von alledem geschah. Seine Erregung wuchs mit jedem Meter, den er zu ihr aufschloss …

      Albert Steinbock aus Cottbus, Witwer und gerade sechsundvierzig Jahre alt geworden, war mit Leib und Seele Polizist. Die Menschen brauchten eine Ordnung, wenn sie überleben wollten, und sie brauchten Männer, die darauf achteten, dass diese Ordnung auch eingehalten wurde. Leute wie ihn, Polizisten. Die waren genauso wichtig wie Ärzte. Die einen bekämpften die Krankheiten, die anderen das Verbrechen. Und Verbrechen waren nichts anderes als Krankheiten, Krankheiten des Volkskörpers. Sie gehörten ausgerottet. Also, ob Arzt oder Polizeiwachtmeister – ohne sie beide ging es nicht, und folglich sah sich Albert Steinbock als außerordentlich wichtiges und unentbehrliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft.

      Umso schmerzlicher hatte es ihn getroffen, als er zu Beginn des Jahres 1949 in seiner Heimatstadt entlassen worden war. Man hatte in der Sowjetisch besetzten Zone (SBZ) beziehungsweise DDR mit der Reorganisation der Polizei begonnen, in deren Folge alle die Polizisten ihren Dienst quittieren mussten, die nahe Angehörige in den Westzonen hatten oder während des Krieges zufällig in amerikanische, britische oder französische Kriegsgefangenschaft geraten waren. Und Steinbock hatte Sohn und Schwiegertochter im Westen, in Berlin-Charlottenburg. Außerdem war er altes SPD-Mitglied und hatte sich geweigert, die Zwangsvereinigung mit den Kommunisten mitzumachen. »In die SED – nur über meine Leiche.« Bei den Machthabern in der Zone war er aber auch auf die Abschussliste geraten, weil er sich im Frühsommer 1948 geweigert hatte, das sogenannte Volksbegehren der SED »Für Einheit und gerechten Frieden« zu unterstützen. Aber dass sie einen so verdienten und sachkundigen Mann wie ihn einfach auf die Straße setzen würden, hatte er trotz allem nicht erwartet. Was nun? Wenn er nicht mehr Polizist sein durfte …

      »Dann nehme ich mir das Leben.« Sein Sohn hatte ihn angeschrien: »Vater, das ist doch ganz einfach: Dann packst du eben deine Sachen und kommst zu uns.« Was Albert Steinbock dann auch getan hatte. Obwohl man ja eigentlich alte Bäume nicht verpflanzen sollte. Über verschiedene Kontakte war er als Wachtmeister bei der West-Berliner Polizei untergekommen. Und da wollte und musste er sich nun beweisen. Was gar nicht so einfach war …

      Seit 1948 war ein heftiger Machtkampf um den Einfluss in der Berliner Polizei entbrannt. Während die Westmächte demokratische Strukturen anstrebten und das Modell von 1932 wiederbeleben wollten, war die Polizei in der DDR als Machtinstrument der SED gedacht und sollte daher in stalinistischer Art und Weise organisiert werden, also straff zentralistisch und mit militärischen Befehlsstrukturen. Im Berliner Alltag wurden die beiden so unterschiedlichen Prinzipien sehr schnell an den Namen zweier Männer festgemacht: Paul Markgraf stand für den Osten, Dr. Johannes Stumm für den Westen. Die Polizei Ost residierte in der Dircksenstraße nahe Alexanderplatz, die Polizei West in der Friesenstraße am Zentralflughafen Tempelhof. Und es war durchweg so, wie es Der Morgen, in Ost-Berlin erscheinend, am 19. August 1948 in seiner Überschrift zum Ausdruck brachte: Gespaltenes Berlin – günstig für Verbrecher. Im Text hieß es dazu: Erschwert wird die Verfolgung der Verbrecher auch dadurch, dass einige westliche Kriminalkommissariate sich grundsätzlich weigern, Festgenommene der Dircksenstraße vorzuführen. Im Westen witterte man fast immer eine kommunistische Schurkerei, gab es doch eine Reihe spektakulärer Entführungen, und waren immer wieder politisch unliebsame Zeitgenossen plötzlich spurlos verschwunden. Die jeweils andere Polizei wurde für unrechtmäßig erklärt, und wer im fremden Sektor eine Amtshandlung begehen wollte, war auf der Stelle festzunehmen. Es herrschte Kleinkrieg zwischen den beiden Polizeipräsidien, und das Reizklima war schließlich derart ausgeprägt, dass der Ost-Berliner Kripochef prompt von der Stumm-Polizei verhaftet wurde, als er privat eine Boxveranstaltung in der Waldbühne besucht hatte.

      Während also die Zuständigkeit der Polizei an den Sektorengrenzen endete, konnten die Gesetzesbrecher weiterhin in beiden Stadthälften agieren und sich darauf verlassen, dass sich die verfeindeten Polizeien auch noch Sand ins Getriebe streuten, zumindest aber die nötige Kooperation erschwerten oder verweigerten. Der Morgen kommentierte das so: Wenn sich früher ein schwerer Junge dem strafenden Arm entziehen wollte, musste er schon über den Ozean fliehen, und selbst dann war er nicht völlig in Sicherheit. Heute begibt er sich in den anderen Sektor, um das behagliche Gefühl des Geborgenseins auszukosten.

      »Vater, musst du denn andauernd Überstunden machen?« Sein Sohn sah es gar nicht gern, wenn Steinbock noch spätabends durch die Trümmerlandschaft streifte, die sich zwischen Zoo und Knie erstreckte, um nach Männern zu suchen, die Buntmetalle klauten.

      »Ich muss die Burschen haben, das bin ich mir selber schuldig.«

      »Pass bloß auf.« Ortwin Steinbock war Journalist und wusste, dass es in der Stadt Menschen gab, die vor nichts zurückschreckten. Es war man gerade ein halbes Jahr her, dass man Werner Gladow und seine Bande nach einem Schusswechsel à la Al Capone im Ost-Berliner Bezirk Friedrichshain festgenommen hatte. Es galt als sicher, dass der Oberstaatsanwalt am Ende des Prozesses für Werner Gladow wegen zweifachen Mordes und einer Reihe anderer schwerer Straftaten die mehrfache Todesstrafe beantragen würde. Trotzdem – oder gerade deswegen – wurde Gladow in beiden Teilen Berlins zum heimlichen Helden. Es gab kaum Jungs in der Stadt, die nicht Gladow-Bande spielten.

      Albert Steinbock lachte und spielte die Sache herunter. »Ich versteh’ immer Gladow … Heißt das nicht Kladow da unten an der Havel?«

      »Immer deine Kalauer. Du hast doch gelesen, was ich über den Leichenfund am Stettiner Bahnhof geschrieben habe. Da ist wieder einer am Werke, der …«

      Sein Vater winkte ab. »Einen Tod kann man nur sterben.« Damit machte er sich auf den Weg. Buntmetalldiebstähle waren an der Tagesordnung, denn an Blei, Kupfer und Messing ließ sich eine Menge verdienen. Besonders wenn man es im Osten klaute und im Westen verscheuerte. Aber auch hier in Charlottenburg war man nicht untätig. Überall, insbesondere in alten Kellern und auf leer geräumten Grundstücken, warteten Schrotthändler auf fette Beute. Steinbock hielt sie allesamt für Hehler. Und wenn sich in den Ruinen keine Bleirohre,