Regina Page

Hotel der Alten


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meint die Schwester.

      „Ich brauche meine Unterlagen, meine Bücher und das Regal.“ Sie ruft der Schwester zu: „Wie lange soll ich auf meine Sachen warten?“ Sie steht auf und nickt ihren Tischnachbarinnen mit einem stillen Gruß zu.

      Die Brühe hat sie eilig gegessen. „Einen guten Tag wünsche ich den Damen.“ Schnurstracks will sie den Speiseraum verlassen, geht aber ohne ihren Rollator in den Flur.

      Eine Pflegerin läuft ihr hinterher. „Sie haben Ihren Gehwagen stehen lassen.“

      Gisela sieht sie giftig an, als hätte diese Frau Schuld daran, dass sie so ein „Ding“, wie sie es nennt, mit sich herumschleppen muss. Schnurstracks läuft sie mit dem Gehwagen den Flur entlang. Etwas mürrisch geht sie zu ihrer neuen Bleibe.

      Ihre Möbel stehen schon an der richtigen Stelle, nur den Sessel schiebt sie mit Schwung in die Zimmerecke, dahin, wo die Stehlampe steht. Die Toilettenartikel bringt sie in das kleine Duschbad. Für sie muss alles parat am Waschbecken stehen. Selbst für den Hustensaft, in einer braunen Flasche, macht sie Platz und ordnet alles so an, wie sie es gewohnt ist „Zu wenig Platz hier“, flucht sie laut. Gisela steht vor dem Regal mit den Büchern, sortiert die Bücher mit ihrer ungestümen Art in die richtige Reihenfolge. Sie sieht sich das erste Mal in ihrem neuen Zuhause um. „Na, groß ist mein Zimmer nicht gerade.“ Sie lächelt dabei. „Mein Zimmer im Urlaub war kleiner, aber was braucht der Mensch?“

      Die letzten Worte spricht sie laut vor sich hin und geht zurück zum Regal. Ihre Lektüre ist ihr wichtig. Jedes Buch hatte bei ihr seinen Platz. Die Bücher von Goethe legt sie in die oberste Reihe – den ersten und zweiten Teil von Faust, den sie schon oft in ihrem Leben gelesen hat und in dem sie immer wieder neue Weisheiten entdeckt. Den Fontaneband, mit allen Werken von eins bis zehn liebt sie insbesondere.

      Gisela war in ihrer Urlaubszeit jahrelang in die Mark Brandenburg gefahren. Das war in der Zeit, als sie im Osten von Berlin wohnte und auch dort ihrer Tätigkeit als Sekretärin nachging.

      Viele Wege war sie dort gegangen. Tagelang war sie in der Urlaubszeit zu Fuß auf den Spuren Fontanes durch die Wälder gestreift. Das werde ich nicht mehr können, die Zeit ist für mich abgelaufen, denkt sie und schiebt den Sessel noch ein Stück näher ans Fenster.

      Gisela ist erschöpft, der Auszug aus ihrer Wohnung hat sie mehr mitgenommen, als sie es zuerst dachte.

      Im Sessel kann sie sich fallen lassen. Sie muss sehen, dass sie zur Ruhe kommt. Das ganze Drumherum macht sie nervös. Die Fahrt ins Ungewisse. Der Taxifahrer quatschte ununterbrochen, obwohl sie ihn zwischendurch bat, er sollte damit aufhören. Es interessiere sie nicht, was er da erzählte, sagte sie ihm während der Fahrt. Er störte sich nicht daran, bis die Fahrt ein Ende hatte. Eingetroffen, mit einem Gefühl der Unsicherheit, sah sie an dem Gebäude empor. Der Eindruck vom Hotel war für sie die Überraschung. Die Empfangshalle lichtdurchflutet, das Besondere war das Grün der Pflanzen.

      Das alles geht ihr durch den Kopf. Sie ist erschöpft und von den Ereignissen des Tages im Sessel eingeschlafen.

      Gisela schreckte durch ihr lautes Schnarchen auf. Die Gedanken an die Zukunft beunruhigen sie. Wie lange kann ich noch bleiben …?

      Das kleine Zimmer erinnert sie an ihr Feriendomizil in der Mark-Brandenburg. Dass sie jetzt hier leben soll, daran muss sie sich erst gewöhnen.

      An ihren Tischnachbarinnen ist ihr die Einfachheit der Frauen aufgefallen. Nicht meine Klasse, denkt sie. Aber die Minuten beim Essen werde ich überleben.

      Monate sind vergangen. Die Damen sind sich noch nicht nähergekommen. Gisela kann kein Gespräch mit ihnen finden. Daher flüchtet sie täglich, nachdem sie gespeist hat und schiebt ihren Gehwagen durch den langen Flur. Sie will so schnell wie sie kann in ihr Zimmer.

       Wieso kann ich mit den Menschen einfach nicht zurechtkommen?

      Vielleicht sollte ich etwas freundlicher am Tisch sein, sind eines Tages, auf dem Weg in ihr „Reich“ ihre Überlegungen. Gisela, ganz in Gedanken, will eine Lösung für dieses Problem.

      Sie ist milde gestimmt und versucht, den Fehler bei sich zu finden.

      Die haben es nicht anders im Leben kennengelernt, philosophiert sie weiter.

      Im Zimmer angekommen, schmeißt sie ihren Gehwagen an die Seite. Frische Luft will sie und sie reißt, verärgert über die Unfähigkeit der Putzfrau, das Fenster auf.

      „Das Fenster bitte auflassen“, hat sie ihr, schon als sie hier ankam, gesagt.

      Für sie ist es nicht nachzuvollziehen, weshalb in ihrem Umfeld die Menschen so desinteressiert miteinander umgehen. Ihre Bewunderung hält sich in Grenzen, doch sieht sie in Hilde eine aufmerksame Hilfe für Gerlinde. Das macht sie sympathisch. Doch Gisela zeigt es nicht. Ihre außergewöhnliche Wachsamkeit und Hilfestellung, die Hilde am Tisch für ihre Mitbewohner zeigt, ist schon etwas Besonderes. Auch auf die Gefahr hin, sich der Lächerlichkeit preiszugeben, geht sie Arm in Arm mit Gerlinde den Flur entlang. Sie bringt sie zu ihrem Zimmer, wenn sie vom Essen vollgekleckert ist oder den Kopf vor Müdigkeit in den Teller fallen lässt; sie kümmert sich. Es ist ihr zu verdanken, dass an Gerlindes Händen die Risse verschwunden sind. Was für eine Frau, bemerkt Gisela insgeheim. Wie Hilde einfach die mitleidigen Blicke der Mitbewohner ignoriert!

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