Elinor Boré

Amadeus Märzhase


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aufrecht in die Höhe, stellte seine Ohren auf und rief den Spätzinnen zu: „Wissen Sie was? Ich bin ein Märzhase!“ Dabei betonte er das letzte Wort ganz besonders.

      Die vornehmen Spatzendamen entdeckten den kleinen Hasen und schauten verdutzt auf ihn herunter. Dann sahen sie sich an und lachten, dass ihnen die Tränen in die Augen traten. Ohne weiter auf den kleinen Rufer zu achten, starteten sie von ihrem Ast aus und flogen davon.

      Nun wusste der kleine Märzhase gar nicht mehr ein noch aus. Gewiss, er war nicht überrascht darüber, dass die beiden Spatzen nichts von ihm wissen wollten. Denn es war ihm bisher noch nie gelungen, Freunde zu finden. Doch ihre Reaktion hatte ihn verwirrt. Dabei war er sich wirklich sicher, dass er ein Märzhase war.

      Geboren wurde er natürlich nicht im März, sondern irgendwann gegen Ende des vergangenen Sommers. Als seine Eltern sahen, dass statt eines Wurfs von mehreren Jungen, ein einziger kleiner Hase geboren wurde, betrachteten sie ihn besorgt und sagten: „Das muss ein Märzhase sein.“

      Genau genommen waren seine Eltern Kaninchen. Demzufolge war auch der einzige Sprössling ihres Wurfs ein Kaninchen. Doch als sie seine langen Ohren bemerkten, die so gar nicht zu dem schmächtigen, kleinen Körper zu passen schienen, kratzten sie sich am Kopf und sagten ganz erstaunt: „Das ist ja ein Märzhase!“

      Wenn er morgens ein wenig länger geschlafen hatte und seine älteren Geschwister bereits das ganze Frühstück verputzt hatten, sodass er nichts mehr abbekam, meinten sie kopfschüttelnd: „Typisch Märzhase“. Und wenn er sich im Wald fürchtete und sich ängstlich hinter seiner großen Schwester verbarg, schüttelte sein Vater abermals den Kopf und brummte: „Da gibt es gar keinen Zweifel, es ist ein Märzhase“.

      Damit stand es glasklar fest, er war ein Märzhase, was auch immer das war. Offenbar war er der einzige Märzhase in seiner Familie. Doch gerade das machte ihn zum Außenseiter. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als dazu zu gehören.

      Eines kalten Morgens, als er wieder einmal etwas länger geschlafen hatte, vermisste er nicht nur sein Frühstück. Niemand war zu sehen, weder seine Eltern, noch seine Geschwister.

      Er rief sie bis er heiser wurde. Er suchte sie auf dem Feld, am Bach, sogar in den Wald wagte er sich in der Hoffnung, wenigstens einen seiner Familienmitglieder zu finden. Doch vergebens. Niemand antwortete auf sein Rufen. Sie waren fortgegangen und hatten ihn zurückgelassen.

      War es möglich, dass sie ihn tatsächlich verlassen hatten? Geschah es, weil er ein Märzhase war? Darüber hatte er sich den Kopf zerbrochen.

      Vielleicht, so hatte er für sich überlegt, hatten sie ihn ja gar nicht wirklich verlassen. Vielleicht wollten sie ihn nur einmal testen, ob er ohne sie zurechtkam. Das war doch möglich, oder?

      Oder, ihm war eine andere Variante eingefallen, sie wollten nur einmal etwas ohne ihn unternehmen. Das sah ihnen ähnlich. Ihm soviel Angst einzujagen. Nun gut. Schließlich würden sie zurückkommen und ihm in allen Einzelheiten von ihren Erlebnissen berichten. Er sah sie geradezu vor sich, wie sie sich wichtig taten. Das würde lustig werden. Er träumte mit offenen Augen davon. Und dann wäre wieder alles so wie früher!

      So hatte er gewartet und gewartet und … wartete noch immer.

      Er hielt sich meist in der Nähe seines Hauses auf, das unter der großen, alten Eiche lag, denn er wollte sie auf keinen Fall verpassen.

      Doch mit der Zeit verlor er etwas von seiner Hoffnung, bis immer weniger davon übrig blieb. Und je weniger Hoffnung blieb, desto trauriger wurde er. Er lernte etwas kennen, das er in seinem jungen Leben noch nicht gekannt hatte. Still und leise kam es angeflogen und setzte ihm nun zu. Das war das Gespenst mit dem Namen Einsamkeit.

      Um dem wenigstens zeitweise zu entfliehen, stellte er sich des Abends an die Eingangstür, inhalierte die kalte Winterluft und begann zu singen.

      Er sang seine Traurigkeit hinaus.

      In seinen Liedern erzählte er von seinem Kummer über den Verlust seiner Lieben, und wie wunderbar es war, im Kreise einer Familie so richtig zu Hause zu sein. In seinen Liedern fragte er immer wieder nach dem Warum. Nur so konnte er seiner Verwirrtheit Ausdruck verleihen. Er sang aus vollem Hals und so seelenvoll mit einer Stimme, die weit über das Feld und in den Wald hinein trug.

      Er wusste nichts davon, dass die Großfamilie der Eichhörnchen, munter geworden, andächtig lauschten, sich die Kolonie der Waldmäuse zusammenfand, und der Herr Igel, dessen Haus am Rande des Feldes stand, mit seiner Frau in den Vorgarten hinaustrat, um der schönen Stimme zu lauschen. Selbst die Vögel, die im Wald überwinterten, waren noch vor dem Zubettgehen still geworden.

      Die ehrenwerte Wächterin der Nacht und Hüterin des Waldes, die Eule, die zu dieser Zeit erwachte, da sie tagsüber schlief, rieb sich verdutzt die Augen und horchte auf den seltsam traurigen Gesang.

      Von all dem wusste der kleine Märzhase natürlich nichts. Auch nichts davon, dass sein Gesang Abend für Abend erwartet wurde. Es gab nur zwei Sachen, die er wusste, zum einen, dass er ein Märzhase war, und zum anderen, dass er ganz allein auf der Welt war.

      Doch dann war ein Lichtschimmer durch das Dunkel seines Kummers gedrungen. Das war geschehen, als er der kürzlich stattgefundenen Unterhaltung der beiden vornehmen Spätzinnen gelauscht hatte. Aus dieser Unterhaltung hallte die Bedeutung des Wortes März, als etwas nach, das etwas ganz Besonderes beschrieb, was obendrein ein wunderschönes Geheimnis barg.

      Das war in das Bewusstsein des kleinen Märzhasen gedrungen und dort geblieben.

      Also, so wagte er zu schlussfolgern, war auch er etwas Besonderes. Der Gedanke gefiel ihm. Ja, es war ein Gedanke, kein Gefühl, mehr noch, es wurde zu einem neuen Wissen. Und dieses Wissen trug er nun in sich. Und es veränderte etwas in ihm.

      Er war zwar immer noch traurig, sein Kummer verschwand nicht einfach so. Doch, und das war die Veränderung, er wurde sich seiner selbst bewusst. Er überlegte, dass es jemanden geben musste, der ihn gewollt und geschaffen hatte, wie er eben war, und der sich etwas Gutes dabei gedacht hatte.

      So veränderten sich auch seine Lieder. Noch immer lehnte er Abend für Abend an der Eingangspforte und sang. Doch in seinen neuen Liedern klangen Hoffnung und Erwartung mit.

      Eines Abends, als es bereits dunkel wurde und Schneeflocken sanft zur Erde fielen, erhielt er unerwarteten Besuch. Sein letztes Lied war gerade verklungen, als sich ein großer Vogel auf einem Ast über ihm niederließ. Bei genauerem Hinsehen sah er, dass es eine vornehme Eule war. Sie trug einen Hut, oder vielleicht eher eine Haube, mit einer allerliebsten Schleife unter dem Kinn.

      Mit ernster Miene musterte sie ihn auf das Genauste. „Nun Kleiner, wie heißt du?“, war ihre erste Frage.

      Der kleine Hase, der sich schon seit Langem mit niemanden unterhalten hatte, blickte die Dame erschrocken an und stotterte: „Ich, ich bin ein Märzhase …“

      „Ja, so etwas habe ich mir schon gedacht. Doch wie ist dein Name?“, beharrte die Vogeldame.

      „A A A Amadeus“, brachte er endlich heraus.

      „Aha, Amadeus also. Nun, wie ich sehe, du lebst hier ganz allein?“ Jetzt bekam er es mit der Angst zu tun.

      „Nein, nein. Das sieht bloß so aus. Ich lebe nicht allein. Mein Papa und meine Mama und alle meine Geschwister sind im Haus. Ich werde zum Abendessen erwartet. Jetzt muss ich auch schon gehen. Hat mich gefreut.“ Mit diesen Worten wollte er im Bau verschwinden, um sich ganz schnell im hintersten Winkel zu verstecken.

      Doch die energische Stimme