gegen das Licht, und plötzlich blieben seine Augen an einem Schlüsselsatz im zweiten Abschnitt hängen.
Ungläubig blinzelnd las er den Satz ein zweites Mal. Von allen idiotischen …
Noah war so patriotisch wie jeder andere auch. Er hatte sogar bei einem Auslandseinsatz gedient, Himmel nochmal. Stars und Stripes und Baseball und Apple Pie und all das, das war seins. Aber manchmal machte ihn die Unfähigkeit der amerikanischen Regierung einfach nur ratlos.
„Na, schau mal einer an, wer da von seinem Berg heruntergekommen ist.“
Noah sah auf und entdeckte seinen besten Freund, Jack McReady – „Pastor Jack“, wie ihn die meisten in der Stadt nannten –, der auf ihn zu schlenderte. Obwohl es Samstagmorgen war, trug er eine Anzughose und ein ordentliches Hemd. Seine Lippen verzogen sich zu dem Lächeln, das die Hälfte der alleinstehenden Damen in seiner Gemeinde für ihn schwärmen ließ. Nur ihm selbst war das überhaupt nicht bewusst.
„Hey, Jack.“ Noah stand auf, ergriff die Hand seines Freundes und zog ihn in eine kurze Umarmung. „Schön, dich zu sehen, mein Freund.“
„Ich habe schon darüber nachgedacht, ob ich mich nach da oben bemühen und dich ins Tal zerren muss.“
„Die Ranch hält mich auf Trab.“
„Selbst Pferde schlafen mal. Wie geht es dir? Bist du gut über den Winter gekommen?“
„Im Januar habe ich ein Fohlen verloren. Aber sonst geht es ganz gut. Ich baue gerade den Dachboden aus. Wie läuft es hier in der Stadt?“
„Ach, das Übliche, du weißt schon. Gerüchte. Facebookdramen. Zankereien im Stadtrat. Lass uns was zusammen essen. Ich war gerade auf dem Weg ins Rusty Nail.“
Noah dachte an den Brief, der ihm ein Loch in die Jackentasche brannte. „Würde ich echt gerne, aber ich muss noch ein paar Sachen erledigen. Um drei muss ich wieder auf der Ranch sein. Aber lass uns das bald mal nachholen.“
Jacks blaue Augen fingen Noahs Blick auf und hielten ihn, machten dieses Ding, bei dem man den Eindruck hatte, er würde einem direkt in die Seele schauen. „Ist alles in Ordnung?“
In Ordnung war schon lange nichts mehr. Nicht mehr seit der Scheidung. Aber das wusste Jack bereits. „Ja. Nur … Leben eben … Du weißt schon.“
„Klar.“ Den Blick immer noch unverwandt auf ihn gerichtet, nickte Jack. „Sicher.“
Wenige Minuten später trennten sie sich mit dem Versprechen, sich irgendwann in den nächsten zwei Wochen zu treffen.
Noah ordnete seine Post und machte sich auf den kurzen Weg zu Walt Levengers Büro. Er zog sich die Kappe ins Gesicht und senkte den Kopf – gegen den Wind, sagte er sich. Immerhin war ihr Laden auf der anderen Seite der Stadt und an einem Samstagmorgen vermutlich rappelvoll. Ziemlich unwahrscheinlich, dass er ihr da über den Weg laufen würde.
Die Innenstadt von Copper Creek hätte einer Filmkulisse entstammen können. Diagonale Parkplätze an der Main Street. Zweigeschossige Ladengeschäfte mit bunten Markisen überblickten stolz die Straße; die Fähnchen, auf denen „Geöffnet“ stand, flatterten munter im Wind. Man konnte in einer Viertelstunde von einem Ende zum anderen gehen, und gerade war Noah sehr dankbar dafür.
Als er das Büro des Wirtschaftsprüfers betrat, klingelte gerade das Telefon. Zwei Leute warteten am Empfangstisch, wo ein gequält dreinschauender Teenager ans Telefon ging und etwas auf einen gelben Klebezettel kritzelte.
Er stellte sich in die Schlange und kam in Gedanken wieder auf den misstönenden Satz in dem Brief zurück. Walt war ein Freund der Familie. Er würde ihm sagen können, wie man das wieder geradebog. Dann würde Noah das Ganze einfach hinter sich lassen.
Aber irgendwie wühlte der Brief alles Mögliche auf, von dem er eigentlich geglaubt hatte, er hätte es längst hinter sich gelassen. Erinnerungen – das Beste an seinem Leben, das Schlimmste an seinem Leben –, die sich zu einem verwirrenden Cocktail aus Freude und Schmerz vermischten. Ein Schraubstock legte sich um sein Herz und zog zu, bis ihm die Luft knapp wurde.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Die Jugendliche sah ihn durch ein paar dicke Brillengläser an.
Er trat vor. „Hi, ich möchte Walt besuchen.“
Das Telefon klingelte. „Haben Sie einen Termin?“
„Nein, aber es ist eine dringende Angelegenheit. Er ist ein Freund der Familie.“
„Name?“
„Noah Mitchell.“
„Setzen Sie sich, bitte.“
Sie nahm den Anruf entgegen, und er gesellte sich zu den anderen im Wartezimmer. In seiner Hosentasche zerknitterte der Brief, während er es sich in dem geschwungenen Plastikstuhl bequem machte.
Er holte sein Telefon heraus und machte sich eine Liste der Dinge, die er bei Piggly Wiggly besorgen musste. Wo er schon in der Stadt war, konnte er auch gleich noch bei Buddys Baumarkt vorbei. Er brauchte Putz- und Schleifpapier für den Dachboden. Da konnte er die Farbe auch gleich mitnehmen. Ein Ausflug in die Stadt weniger. Vielleicht würde er seinen Bruder aufspüren und mit ihm einen Kaffee trinken, falls der Zeit hatte.
„Noah, Sie können dann durchgehen.“
Er ging durch den kurzen Flur zur ersten offenen Tür links und klopfte an den Rahmen.
Walt stand hinter seinem unordentlichen Schreibtisch auf und streckte die Hand aus. „Noah, komm doch rein.“
Noah schlug ein. „Schön, Sie zu sehen, Sir.“
Walt gewann zwar den Kampf gegen das Gewicht, der oft mit einem Schreibtischjob einherging, die Schlacht gegen seinen Haaransatz verlor er aber offenbar.
„Danke, dass Sie mich so kurzfristig empfangen können. Sie stecken doch sicher wegen der Steuerfristen bis über beide Ohren in Arbeit.“
Walt zog sich seine Gleitsichtbrille von der Nase. „Dieses Jahr habe ich etwas Hilfe dabei. Junger Hüpfer, frisch vom College. Bringt mich noch ins Grab.“
Noahs Mundwinkel wanderten nordwärts.
„Jedes Mal, wenn ich dich sehe, siehst du mehr aus wie dein Vater“, sagte Walt. „Gutaussehender Teufelsbraten. Setz dich doch. Wie geht’s deinen Eltern?“
„Die genießen ihren Ruhestand. Diese Woche sind sie in Las Vegas. Letzte Woche waren sie in der Sierra Nevada wandern. Wer weiß, was sie nächste Woche machen.“
„Das freut mich für sie. Darauf haben sie sich schon lange gefreut.“
„Oh ja. Wie geht es Ihrer Familie?“
„Alles bestens. Hier, das ist mein neuestes Enkelkind.“ Er reichte Noah das gerahmte Foto eines Neugeborenen, fest eingewickelt und rosig. „Lori Ann, nach meiner Frau.“
„Herzlichen Glückwunsch. Sie ist eine echte Schönheit.“
„Das ist sie, ja.“ Walt stellte das Foto wieder an seinen Platz. „Also, was kann ich für dich tun, Noah? Brauchst du dieses Jahr Hilfe mit deiner Steuererklärung?“
„Das ist es eigentlich nicht.“ Er zog den Brief aus der Hosentasche und reichte ihn über den Schreibtisch. „Den hatte ich heute in der Post. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir raten, wie ich jetzt weitermachen soll.“
Walt setzte seine Brille wieder auf. Beim Lesen runzelte er die Stirn.
Eine ganze Stunde schien zu vergehen, bis der ältere Mann endlich aufschaute und Noahs Blick über den Brillenrand erwiderte. „Wann wurde deine Scheidung denn zum Abschluss gebracht, Noah?“
Scheidung. Würde er sich je an das Wort gewöhnen? „Vor dem Januar im fraglichen Steuerjahr.“
„Dann war die getrennte Veranlagung natürlich richtig.“ Sein Blick fiel wieder auf den Brief.
„Wie kann ich das in Ordnung bringen?“