Carolina Dorn

Schwarze Krähen - Boten des Todes


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      In der offenen Türe stand der Hausmeister. Ein großgewachsener, schlanker Mann, um die fünfundsechzig Jahre alt. Sein Haar wies nur einen leichten Grauschimmer auf, während das seiner kleinen, leicht rundlichen Frau bereits gänzlich schneeweiß leuchtete. Sie war etwas jünger als ihr Mann. Doreen, eine äußerst ängstliche Natur, die immer gleich das Schlimmste befürchtete, hielt sich die Schürze vor das Gesicht, um die Tränen zu trockenen.

      Gordon stellte die neue Pflegekraft vor: „Doreen, Richard, das ist Schwester Christin aus dem Heilig Geist Kloster: Christin, das ist das Hausmeisterehepaar, das damals Brandons Erziehung übernahm. Richard und Doreen Miller.“

      Richard begutachtete die kleine Nonne äußerst genau. Dabei dachte er: Sie gleicht einer Elfe, doch nein. Er blickte ihr ins Gesicht. Sie wirkt so wunderschön, wie eine seltene Rose, die aus dem Nebel heraustritt und zu uns kommt.

      Doreen schluchzte immer noch vor sich hin. Spontan ging Christin auf sie zu, nahm sie in den Arm, sie hatten beinahe die gleiche Größe, und geleitete die Frau ins Haus hinein. Sie befanden sich nun in der großen Eingangshalle.

      „Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird schon alles gut werden“, tröstete sie die ältere Frau.

      Seltsam, dachte diese. Das hat noch keine Pflegerin getan und mich tröstend in den Arm genommen.

      „Wo bleibt der Rest der Bewohner?“, wunderte sich die kleine Nonne.

      „Außer dem kranken Hausherrn gibt es hier niemanden weiter. Als er erkrankte, entließ er das gesamte Personal“, klärte sie Gordon auf. Christin nickte verstehend.

      Kaum setzten sie ein paar Schritte in das Haus, hörten sie vom oberen Stockwerk Schmerzensschreie und zwar so entsetzlich klagend, dass Doreen erneut in Tränen ausbrach.

      „Ich werde gleich mal nach ihm sehen“, beruhigte Christin das ältere Paar.

      Sie nahm Gordons Jacke ab, hängte sie über eine Stuhllehne und griff nach dem großen Koffer mit den Medikamenten. Je eine leicht geschwungene Treppe aus dunklem Eichenholz führte rechts und links von der Halle aus in das obere Stockwerk. Christin folgte dem Geschrei und wählte die linke Treppe. Oben fand sie eine Türe offen stehen. Sie trat in den fast völlig dunklen Raum, in dem nur eine ganz kleine Nachtlampe mit schwacher Birne brannte. Die Vorhänge und die Rollos hielten die Fenstern fest verschlossen. Langsam betrat sie den Raum. Nach mehreren Schritten auf hellem Parkettboden stand sie direkt vor dem Bett, das mitten im Zimmer platziert stand. Sie ging zurück zur Tür und schaltete die große Deckenbeleuchtung ein.

      Sofort begann Brandon erneut zu schreien. „Machen Sie sofort das Licht aus! Es blendet mich! Welcher Idiot hat es angeschaltet?“ Es sollte energisch klingen, doch die Kraft fehlte beinahe gänzlich in seiner Stimme, so dass es nur sehr leise und matt wirkte.

      Christin ignorierte seine Befehle und sah sich um. Sie gewahrte den vor Schmerzen gequälten Mann in einem vollkommen mit Essensresten verdreckten Bett. Sie stellte ihren Koffer ab und öffnete ihn.

      „Entschuldigung, Mr. Stonewall, ich will Ihnen helfen, aber ohne Licht sehe ich sonst nichts. Machen Sie doch bitte die Augen zu“, bat sie ihn freundlich.

      „Sie können mich gar nicht verfehlen, auch im dunklen nicht: Ich bin der, der so schmerzvoll schreit und lamentiert“, antwortete er.

      Während sie verschiedene Medikamente in einer Spritze aufzog, jammerte ihr Patient pausenlos weiter vor sich hin.

      „Was habe ich nur verbrochen, dass mich alle so schlecht behandeln? Ich habe doch niemandem etwas getan.“ Er begann haltlos zu weinen.

      Dann drehte er den Kopf zur Seite und erkannte die Umrisse von Christin in ihrer Nonnentracht und ihre nackten Füße. „Oh nein! Nein! Gordon, warum tust du mir das an? Du bist doch mein bester Freund. Nimm diese Nebelkrähe und bringe sie dahin zurück, wo sie herkommt. Ist es denn schon so weit mit mir, dass man mir Gottes rechte Hand schickt? Dann könnt ihr ja schon mal ein Loch im Garten graben, wo ihr mich dann hineinwerfen könnt.“ Sein Sarkasmus war unüberhörbar. Erneut krümmte er sich vor Schmerzen zusammen.

      „Ich will meine Morphiumspritze haben!“, bettelte er. „Ich kann nicht mehr. Ach, wenn ich doch nur endlich sterben könnte. Keine Schmerzen haben, mehr will ich doch nicht“, jammerte er weiter.

      Christin zog als erstes das Morphium in einer Spritze auf, jedoch nur dreiviertel der Ampulle, und mischte ihm noch ein pflanzliches Schmerzmedikament dazu. Jeden Tag etwas weniger vom Morphium, so bekommt er eventuell keine Entzugserscheinungen, überlegte sie. Sie wusste nicht wie stark er schon von dieser Droge abhängig war. In seinem Zustand jedoch wahrscheinlich schon sehr lange. Anschließend suchte sie nach einer Vene bei ihm, doch beide Arme sahen so zerstochen aus, dass sie beinahe kein brauchbares Blutgefäß mehr fand, um ihm das Medikament zu spritzen. Die Pflegerin vor ihr musste eine miserable Venentechnik gehabt haben. Endlich fand sie eine.

      „Wo bleibt denn das Morphium?“ Brandon wurde ungeduldig und seine Stimme überschlug sich.

      „Ich habe es Ihnen bereits gespritzt“, antwortete Christin.

      „Seltsam, ich habe gar keinen Einstich gefühlt“, wunderte er sich.

      Da sie nur diese eine gute Vene zur Verfügung hatte, legte sie ihm gleich einen intravenösen Zugang und hängte ihm eine Infusion mit verschiedenen pflanzlichen Medikamenten an den Infusionsständer.

      „Warum martert ihr mich denn so? Lasst mich doch endlich in Ruhe sterben“, weinte er wieder.

      „Habe ich Sie denn heute schon gemartert?“, entgegnete die Nonne.

      Er dachte kurz nach und blinzelte in ihre Richtung. Seine Augen allerdings sahen sie nur durch einen undeutlichen Tränenschleier.

      „Nein, eigentlich nicht, aber es wird noch kommen, wie immer, fürchte ich“, antwortete er. „Da bin ich mir ganz sicher.“

      „Warten Sie’s doch einfach ab“, meinte Christin mit leiser Stimme.

      „Gordon!“, rief er dann wieder. „Gordon, ich will keine Nebelkrähe. Du kannst sie gleich wieder mitnehmen. Solche alten Pinguine gehen mir auf die Nerven. Tu mir das nicht an oder ich werde sie genauso hinausekeln, wie die anderen Pflegekräfte auch.“

      Doch der Freund lachte nur, als er an seinem Zimmer vorbeiging, und gab ihm keine Antwort.

      Langsam wurde Brandon sichtbar ruhiger. Er entkrampfte sich und schloss seine Augen. Sein letzter Gedanke drehte sich um die nackten Füße der Pflegerin, die äußerst klein waren, jedoch wohlgeformt, die sich so gut wie lautlos über seinen Parkett-Fußboden bewegten.

      Sie betrachtete ihn, wie er so dalag. Vollkommen abgemagert bis auf die Knochen. Die Haut fast durchsichtig weiß und mit tiefen, dunklen Rändern unter den Augen. Von der angeborenen Bräune keine Spur mehr. Die Wangen eingefallen und die Lippen blutig aufgesprungen. Seine dunkelblaue Schirmmütze saß verrutscht auf seinem Kopf, so dass man einen leichten dunkelbraunen Flaum sehen konnte. Anscheinend bekam er schon längere Zeit keine Chemotherapie mehr, denn sonst würden die Haare nicht so lustig sprießen. Man hat ihn also aufgegeben, ging es ihr durch den Kopf. Ebenso wuchs ein dichter, langer, dunkler Vollbart. Er stand im krassen Gegensatz zu der sehr hellen Haut. Keine der vorherigen Pflegerinnen hatte es für nötig gefunden, ihn zu rasieren. Natürlich, wozu dieser Aufwand auch? Er starb ja sowieso. Christin konnte keine Lachfältchen mehr entdecken. Brandon schlief jetzt tief und zwar einmal ganz ohne Schmerzen.

      Sie band sich eine weiße Schürze um und machte sich an die Arbeit. Sie füllte eine Schüssel mit warmem Wasser, stellte sie auf das Nachtschränkchen und bewaffnete sich mit mehreren Handtüchern und Waschlappen, die sie aus dem Schrank an der Wand nahm. Als erstes bezog sie das Bett frisch, denn auf dem Bezug lagen die Nudeln und die Tomatensoße. Dabei entdeckte sie, dass die Füße ihres Patienten bereits eine leichte Spitzfußstellung bekamen. So wie es aussah, achtete keine der Pflegekräfte darauf. Wie wollte er sonst jemals wieder laufen können? Oder dachten sie, der überlebt das sowieso nicht? Sie zog seinen Körper so weit nach unten, dass die Fußsohlen das