hat Sie angefordert?“, wollte er wissen.
„Dr. Spencer“, informierte sie ihn.
„Dem fällt auch schon nichts mehr Gescheites ein“, murmelte er leise und schloss seine Augen.
Sie begann sein Bett zu machen. Als sie ringsum das Laken richtete, kam sie dabei seinem Gesicht ziemlich nahe und er atmete plötzlich den Duft von Cyclamen ein. Er lernte diese Blumen, es waren Alpenveilchen in Miniaturgröße, kennen, als er einmal mit seiner Mutter in den deutschen Alpen, genauer gesagt in Bad Reichenhall zur Kur musste. Sie wuchsen dort an kleinen Bächen im Hochwald. Diesen Duft vergaß er nie mehr, denn er war so intensiv, frisch und lebendig. Erinnerungen wurden in ihm wach. Unbeschwerte, schöne Tage mit der Mutter während seiner Kindheit. Er besaß schon als Kind keine stabile Infektabwehr. Jede noch so kleine Erkältung, die in der Schule ausbrach, bekam er hundertprozentig ab. Einmal, mit zehn Jahren zog er sich deswegen eine Lungenentzündung zu. Es dauerte sehr lange, bis sie ausheilte, doch der Husten wollte absolut nicht weichen. Deshalb schickte ihn der Arzt mit seiner Mutter nach Deutschland. Die Salinen in Bad Reichenhall waren weltbekannt. Man spazierte dort langsam durch hohe, offene Hallen, an deren inneren Wänden schuppenartig Tannenreisig angebracht war, das mit Sole berieselt wurde. Der feine, salzhaltige Nebel, der durch das Abtropfen und Verdunsten entstand, drang beim tiefen Luftholen in die Bronchien ein. Er heilte die Atmungsorgane und erleichterte gleichzeitig das Atmen und das Abhusten. Langsam kehrte er mit seinen Gedanken in die Gegenwart zurück. Brandon blieb nichts anderes übrig, als seine Augen zu öffnen, wenn er wissen wollte, wem dieser herrliche Duft gehörte. Er tat es und blickte in ein so zauberhaftes, junges Gesicht mit zwei großen, dunkelbraunen, leuchtenden Augen, dass es ihm den Atem verschlug. Ein drittes Wunder. Sollte das etwa seine neue Pflegerin sein, die Nonne? Und wahrhaftig, sie trug die schwarze Tracht und den Schleier. Sein Blick wanderte nach unten. Oh, heute trägt sie schwarze Schuhe, ging es durch seinen Kopf. Als sie sich aufrichtete, bemerkte er, dass sie über ihrem schwarzen Habit eine weiße Schürze trug, die ihre überaus schlanke Figur zum Vorschein brachte, jedoch ausgestattet mit allen Rundungen an den richtigen Stellen. Eine noch sehr junge Ordensschwester. Er schätzte sie kaum über zwanzig Jahre. Gestern noch meinte er, es wäre bestimmt eine ältere Frau, nur die Stimme passte nicht ganz dazu. Doch diese hier strahlte eine überraschende Schönheit aus, wie ein junger Tag im Frühling.
„Guten Morgen, Mr. Stonewall“, begrüßte sie ihn freundlich lächelnd. „Ich bin Schwester Christin.“
„G … G … Guten Morgen“, stotterte Brandon total verwirrt.
Gleich darauf kam sie mit einer Serviette, die sie ihm umband, und einem kleinen Tischchen, dass sie ihm ins Bett stellte. Sie erhöhte den Rückenteil seines Bettes ganz leicht, nur wenige Millimeter, um ihm das Essen zu erleichtern. Auf das Tischchen schob sie ihm ein Tablett. Da gab es Tee, Saft, Obst und ein Butterbrot, das bereits geschmiert und in kleine Teile zerschnitten war.
„Marmelade oder Honig?“, ließ sie ihn wählen.
„Nur ein Butterbrot, bitte“, antwortete Brandon völlig perplex. Hier geschah ein Wunder nach dem anderen.
So etwas kannte er überhaupt nicht. Man ließ ihn mit dem Essen immer allein. Wie sollte er im Liegen schneiden und essen? Niemand stellte seine Rückenlehne ein klein wenig höher. Da er vor Schwäche nicht schmieren und schneiden konnte, räumte man das Tablett meist unberührt wieder ab. Danach plagte den Patienten nach jeder Mahlzeit der Hunger. So magerte er noch schneller ab als von der Krankheit allein.
Er versuchte ein Stück Brot zu nehmen, aber er zitterte so sehr, dass es ihm aus den Fingern glitt.
Christin bemerkte es. Sie setzte sich auf den Bettrand und fütterte ihn. Die Tasse mit dem Tee reichte sie ihm mit einem Strohhalm hin. Wenn er auch nur drei kleine Stückchen Brot essen konnte, so freute sie sich doch, dass er überhaupt etwas zu sich nahm. Morgen wollte sie es mit vier Stückchen versuchen und das Ganze jeden Tag steigern.
Christin bedachte ihn mit einem Lächeln. Und dieses Lächeln wirkte so zauberhaft, dass er ganz schnell seine Augen schließen musste. Ein seltsames Kribbeln machte sich unter seiner Kopfhaut bemerkbar. Muss ich mich auf meine letzten Tage auch noch verlieben? Noch dazu in eine Nonne, die für mich unerreichbar ist? So eine Ironie des Schicksals, grollte er in Gedanken. Er verzog sein Gesicht zu einer grimmigen Maske.
Sie dagegen blieb direkt an seinen blauen Augen hängen. Leider leuchteten sie nicht mehr so strahlend, wie auf dem Bild in ihrer Mappe. Sie wirkten matt und blass, als wenn ihnen die herrliche blaue Farbe ausgegangen wäre.
Brandon lag erschöpft in seinen Kissen. Doch die kleine Nonne ließ ihm noch keine Ruhe.
„So, Mr. Stonewall, heute werden wir mit der Blasen- und Darmkontrolle beginnen“, setzte sie ihn in Kenntnis.
„Muss das heute noch sein?“, maulte er.
„Aber natürlich. Hat das denn noch niemand mit Ihnen gemacht?“, wunderte sie sich.
„Nein, wozu, ich sterbe bald. Zuviel Mühe und Aufwand“, antwortete er mürrisch.
„Nein, das glaube ich nicht. Sie sterben noch nicht. Sie werden leben und deshalb mache ich mir auch die Mühe“, ließ sie ihn voller Überzeugung wissen.
„Ah“, stöhnte er. „Verschwenden Sie nicht Ihre kostbare Zeit mit mir“, entgegnete er unwirsch. „Nehmen Sie sich einen zehn Groschenroman und verziehen Sie sich.“
„Wollen Sie weiterhin immer unter sich machen? Sich von mir ausputzen lassen?“ Sie wurde langsam energisch. Mit in den Hüften gestemmten Fäusten stand sie vor ihm.
Oh ja, das wirkte, denn diese Peinlichkeit wollte er sich und ihr doch ersparen. Wäre es eine alte Nonne, so würde es ihm wohl egal gewesen sein, doch sie hier zählte nur ein paar Jahre weniger als er. Bei ihr fühlte er sich jedoch recht beschämt dabei. Doch gleich darauf gewann die depressive Seite wieder die Oberhand.
„Lassen Sie es doch sein. Die anderen mühten sich auch nicht damit ab“, schlug er ihren besonderen Einsatz aus.
„Ja, das glaube ich. Deswegen haben Sie auch einen dermaßen großen Dekubitus bekommen, denn umgelagert wurden Sie auch nicht.“
Er wollte ihr ins Wort fallen, aber sie sprach sogleich weiter. „Ich weiß, dass das wegen Ihrer Rückenverletzung nicht möglich ist, doch ein Spezialbett zum Drehen hat auch niemand beantragt. Ich verstehe das nicht. Auch wenn es Ihre Privatkrankenkasse nicht bewilligt hätte, so wären Sie doch gewiss in der Lage gewesen, es selbst zu bezahlten. Ein Multimillionär, so unwahrscheinlich reich wie Sie und bekommt die miserabelsten Pflegekräfte zugeteilt, die es überhaupt in ganz Kanada gibt“, schimpfte sie jetzt. „Wer sucht diese Kräfte überhaupt aus?“, erkundigte sie sich.
„Meine Krankenkasse. Wahrscheinlich werde ich ihr mit der Zeit zu teuer. Deshalb schicken sie mir die am schlechtesten qualifiziertesten Pflegerinnen, die sie zur Verfügung haben. Ich bekomme die teuersten Medikamente und Anwendungen, Pflegekräfte für Tag und Nacht. Solche Patienten möchte die Kasse schnellstens loswerden“, erklärte Brandon. „Deshalb habe ich freie Pflegekräfte angefordert, doch die waren noch viel schlechter“, erklärte er ihr.
„Nun, zur Not könnten Sie das selbst finanzieren“, entgegnete Christin. „Auf jeden Fall haben Sie die Pflegekräfte, die nicht von der Krankenkasse kamen, nur für ihre Faulheit und ihr Unwissen extra bezahlt.“
„Und Sie können es besser?“ Brandon bedachte sie mit einem schrägen Blick.
„Oh ja“, erwiderte Christin ganz selbstbewusst. „Ich kann es besser, sehr viel besser sogar“, bestätigte sie ruhig. „Ich werde es Ihnen beweisen. Ich bin vor allem nicht faul und ich habe eine Spezialausbildung für solche schweren Fälle wie Sie. Und Sie werden leben!“, beharrte sie.
„Ha, das hier soll Leben sein?“, machte er sich lustig. Seine Stimmungen wechselten ständig zwischen depressiv, sarkastisch, beleidigender und negativer Lustigkeit.
„Sie werden Ihr Dasein wieder lebenswert finden, glauben Sie mir das.“ Energisch schlug sie seine Bettdecke zurück.