Tortur? Wie oft denn noch? Es hilft doch sowieso nichts! Ich ertrage das nicht mehr“, jammerte er. „Ob mit oder ohne Wasser in der Lunge, diese Chemo hat noch nie bei mir gefruchtet.“
Christin kam zu ihm. Er tat ihr unendlich leid. Sie wusste, dass sie sich da auf etwas einließ, dass sie nicht tun sollte, nämlich körperlich und seelisch mit dem Patienten zu fühlen. Es kam so plötzlich über sie, dass es ihr unmöglich wurde, sich dagegen zu wehren.
Nach dieser Diagnose konnte sie den ganzen Tag nichts mehr mit ihm anfangen. Er gab nur noch einsilbige Antworten. Selbst ein einfaches Gespräch kam nicht mehr in Gang.
Wegen der bevorstehenden Chemotherapie konnte er die ganze Nacht kein Auge zumachen.
Am nächsten Morgen das gleiche Dilemma. Auch das liebevoll hergerichtete Frühstück rührte er nicht an.
Christin setzte sich auf die Bettkante und nahm seine großen, schlanken Hände in die ihren. „Kommen Sie, Mr. Stonewall, lassen Sie uns ein Gebet sprechen“, versuchte sie ihn zu ermuntern.
Doch da kam sie bei Brandon gerade an die falsche Adresse. Ruckartig entzog er ihr seine Hände.
„Beten! Beten! Etwas anderes könnt ihr Ordensschwestern ja nicht! Ihr meint, alle Krankheiten lassen sich heilen und alle Probleme mit einem Gebet regeln! Ein kleines, kurzes Gebet und alles wird wieder gut, ja? Mich hat Gott schon lange verlassen, deshalb glaube und bete ich auch nicht mehr!“, brach es aus ihm heraus.
Christin zog sich leicht irritiert zurück. Mit diesem Ausbruch hatte sie nicht gerechnet. Aber er war jetzt leicht verwundbar durch die erneuten Schmerzen und die Chemotherapie, die ihn erwartete. Deshalb verzieh sie es ihm. Sie betete im Stillen für sich und trotzdem auch für ihn.
Der Krankenwagen fuhr vor. Zwei Sanitäter kamen mit einer Trage. Sie hoben den Patienten mitsamt dem Bettlaken darauf, um die Wirbelsäule so wenig wie möglich in ihrer Lage zu verändern. Er wurde festgeschnallt und ins Auto gebracht. Christin folgte bis zum Rettungswagen.
„Habt Ihr noch einen Platz für mich frei?“, erkundigte sie sich.
„Sie wollen mitfahren?“ Die Sanitäter sahen sich etwas überrascht an. Das tat bis jetzt keine häusliche Pflegekraft.
„Ich lasse meine Patienten nie allein“, erläuterte sie den beiden jungen Männern mit festem Blick.
Rasch machten sie neben der Trage einen Notsitz für sie frei. Sie stieg ein, setzte sich und schnallte sich an.
„Machen Sie das wirklich immer?“, hinterfragte Brandon neugierig.
Sie sah ihn mit großen, ehrlichen Augen an und bestätigte: „Ja, das tue ich, weil ich der Meinung bin, dass alle meine Patienten, ob groß oder klein, gerade in dieser Situation, in der Sie sich jetzt im Moment auch befinden, Beistand brauchen. Sie fühlen sich sonst total verlassen und dem Ganzen hilflos ausgeliefert, auch wenn sie erwachsen sind.“
Brandon staunte wieder einmal mehr über diese kleine Nonne.
In der Krebsklinik angekommen, brachte man ihn sofort in einen Vorbereitungsraum. Christin bekam einen grünen Kittel übergestülpt. Man verkabelte Brandon inzwischen mit verschiedenen Überwachungsgeräten und legte ihn wieder mittels des Lakens auf eine Art Operationstisch. Sie schoben ihn in den angrenzenden Raum, wo ihn der Professor erwartete.
„Guten Morgen, Mr. Stonewall“, begrüßte er ihn.
Brandon murmelte etwas Undeutliches, denn für ihn würde es kein guter Morgen werden.
„Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen“, begann der Arzt. „Da Sie so einen aggressiven Blutkrebs haben, will ich Ihnen eine neue Therapie anbieten. Und zwar geben wir Ihnen die Chemo-Medikamente direkt zwischen die Wirbel. Normalerweise verabreicht man das Medikament zwischen dem vierten und fünften Lendenwirbel. Bei Ihnen ist das leider nicht möglich, da Ihre Lendenwirbelsäule verletzt ist. Also werden wir zwei Wirbel weiter oben eindringen. Auf jeden Fall hat sich diese neue Methode am effektivsten erwiesen.“
„Wenn Sie meinen, dass es etwas bringt?“, brummte Brandon. „Aber fangen Sie bitte endlich an. Ich will es so schnell wie möglich hinter mich bringen.“ Ihm war so ziemlich alles egal.
Man lagerte ihn vorsichtig auf die rechte Seite. Das Behandlungsgebiet wurde großflächig desinfiziert. Ein Pfleger erhöhte den Tisch, so dass der Professor das besagte Gebiet direkt vor seinem Gesicht hatte. Er bekam sterile Handschuhe von einer Schwester übergestreift. Dann griff er zu einer Spezialkanüle, die auf dem hergerichteten Instrumententisch lag.
„Mr. Stonewall, ist alles in Ordnung?“, fragte er sicherheitshalber seinen Patienten. „Es gibt jetzt einen kurzen Stich. Bitte erschrecken Sie nicht.“
Als er die Kanüle einstach, biss Brandon seine Zähne fest aufeinander. Er klammerte sich vor Schmerz an Christin, die vor ihm am Kopfende des Tisches stand, und zwar krallte er sich mit seinen Fingern so fest er konnte um ihre Taille. Vor Schreck blieb ihr die Luft weg. Noch nie berührte sie hier ein Mann.
„Bleiben Sie jetzt bitte ganz ruhig liegen“, ermahnte ihn der Professor. „Ich schließe jetzt den Perfusor (ein Gerät, das gleichmäßig die Tropfen abgibt) an.“
Man stützte und fixierte ihn mit Sandsäcken, damit er nicht nach hinten auf den Rücken rollen konnte und deckte ihn leicht zu.
Langsam ebbte der Schmerz in Brandons Rücken ab. Erst jetzt bemerkte er, dass er seine Pflegerin fest umschlungen hielt. Erschrocken ließ er sie los.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, murmelte er betreten. „Habe ich Ihnen wehgetan?“
„Nein, es ist schon in Ordnung“, antwortete Christin und atmete befreit auf. Doch so unangenehm fühlte sich die Berührung gar nicht an. Im Gegenteil, dort wo seine Hände sie umfangen hatten, kribbelte es jetzt und eine angenehme Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Ein leichtes Schwächegefühl in ihren Beinen machte sich zusätzlich bemerkbar. Sie konnte damit nichts anfangen, es auch nirgends einordnen. Christin hatte diese Gefühle zum ersten Mal und sie bemerkte bei sich eine große Unsicherheit. Wie sollte sie damit umgehen?
Der Tisch wurde wieder auf normale Höhe gebracht. Die Nonne holte sich einen Stuhl, setzte sich neben ihren Patienten und nahm seine rechte Hand in die ihre.
Bis das Medikament vollständig infundiert war, wurde es Nachmittag. Die Kanüle wurde herausgezogen und Brandon mit einem Druckverband auf den Rücken gelagert. Jetzt musste er drei Stunden so liegen bleiben. Er fühlte sich müde und wollte schlafen, aber ein starkes Übelkeitsgefühl hielt ihn davon ab. Verzweifelt versuchte er es zu unterdrücken, doch leider ließ es sich nicht aufhalten. Brandon erbrach beinahe pausenlos, ihm schmerzte der Magen und rasende Kopfschmerzen stellten sich ein. Christin hielt ihm die Brechschale. Sie fand es einfach grauenhaft, dass schwerkranke Patienten mit diesen Medikamenten auch noch belastet wurden. Doch im Moment gab es noch nichts Besseres auf dem Markt. Die Ordensschwester kämpfte mit den Tränen, etwas, das ihr noch niemals widerfahren war während einer Betreuung. Verstohlen wischte sie sie mit dem Handrücken weg, denn er sollte sie nicht sehen. Warum nur fühle ich mich ausgerechnet bei diesem Patienten so schwach? wunderte sie sich. In der Ausbildung wurde ich gelehrt, die Patienten mit Herz zu pflegen, jedoch den Schmerz und das Leid nicht an sich herankommen zu lassen. Geschieht es wirklich einmal, so ist das eigene Herz und der Glaube an Gott gefährdet. In solchen Situationen sollte man immer mit einem passenden Bibelspruch reagieren, um das Unheil abzuwenden, rief sie sich in ihre Erinnerung zurück. Und so betete sie lautlos in ihren Gedanken: „Denn worin er, Jesus Christus, selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.
Erst als die Sonne unterging wurden Brandon und seine Pflegerin nach Hause gefahren.
Christin kam ihr Patient heute noch schwächer als je zuvor vor. Er atmete so flach, dass sie schon genau hinsehen musste, ob er überhaupt noch Luft holte. Sie blieb die ganze Nacht an seinem Bett, vor allem auch, weil ihm immer wieder übel wurde. Nur von seinen Kopfschmerzen konnte sie ihn mit ihren Händen befreien. Auch die Infusion legte sie wieder, so dass er keine Schmerzen verspürte.