Carolina Dorn

Schwarze Krähen - Boten des Todes


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glaube, ich muss mein ganzes restliches Leben im Bett verbringen“, gab Brandon eines Abends ganz unvermittelt von sich.

      Christin gab es einen Riss, denn sie döste neben ihm leicht ein.

      „Das glaube ich nicht“, widersprach sie sogleich.

      „Sie wollen es nur nicht glauben“, entgegnete er trübsinnig. Das Wort „wollen“ betonte er extra.

      „Nein, ich glaube fest, dass diese neue Chemotherapie greift. Sind die Krebszellen dann auf dem Rückzug, können Sie doch operiert werden“, versicherte sie ihm.

      „Gut, dann sitze ich eben im Rollstuhl für den Rest, der mir noch bleibt. Ich hasse dieses Ding!“, brach es aus ihm heraus.

      „Wer sagt Ihnen, dass Sie im Rollstuhl bleiben müssen? Erst muss ja wohl geklärt werden, was im Einzelnen bei Ihrer Wirbelsäule verletzt ist. Und durchgebrochen ist sie auch nicht, sonst wären Sie entweder schon längst tot, oder zumindest querschnittsgelähmt“, ereiferte sich Christin.

      „Schon, aber ich fühle meine Beine und Füße nicht. Folglich bin ich querschnittsgelähmt“, beharrte Brandon.

      „Das ist überhaupt nicht sicher. Beim Waschen habe ich zum Beispiel bemerkt, dass Sie ab und zu die Füße und die Beine ein wenig bewegt haben. Mr. Stonewall, warum sehen Sie denn alles so negativ?“, wollte sie wissen.

      „Weil mein ganzes Leben bisher nur negativ verlaufen ist, sogar meine Kinderzeit und Jugendzeit“, antwortete er. „Seit ich so krank bin, fühle ich mich oft wie ein Baum ohne Blätter, dessen nackte, sturmgepeitschte Äste sich im dichten, kalten Nebel um Hilfe flehend dem Himmel entgegenstrecken.“

      „Ich will nicht neugierig sein, Mr. Stonewall, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mir das bitte etwas näher zu erklären?“ Sie setzte sich zu ihm auf den Bettrand.

      „Mr. Stonewall, der da draußen im Park in einem Mausoleum begraben liegt, ist nicht mein richtiger Vater. Meine Mutter wurde als sehr junges Mädchen zu dieser Vernunftehe gezwungen. Das klingt zwar wie im Mittelalter, doch bei meinen Eltern wurde es leider so arrangiert. Die Liebe blieb aus. Trotzdem kam ein Jahr nach der Hochzeit mein Bruder Henry auf die Welt. Sechs Jahre später fuhr meine Mutter allein in den Urlaub. Mein Stiefvater musste zur gleichen Zeit eine längere Geschäftsreise antreten. Als meine Mutter nach Hause kam, konnte sie dummerweise später nicht mehr sagen, dass das Kind, das sie erwartete, von ihrem Mann stammte, denn man sah ihr die Schwangerschaft bereits an. Eine Abtreibung stand bei ihr niemals zur Debatte. Sie wollte das Kind auf jeden Fall bekommen. Über meinen leiblichen Vater sprach sie niemals. So flog der Seitensprung auf. Mein Stiefvater ließ sich jedoch nicht scheiden, schon wegen des Geredes der Leute. Er stand als Chef mehreren Banken vor. Da machte sich eine Trennung nicht gut. Aber er verbannte meine Mutter und mich aus dem gemeinsamen Schlafzimmer. Nur wenn es etwas zu repräsentieren gab und die Presse anrückte, mussten sie und ich an seiner Seite erscheinen. Ihnen wollte er der Welt seine heile Familie präsentieren, die in Wirklichkeit überhaupt nicht existierte. Mein Vater hielt viele Gartenpartys ab, die sich bis in die später Nacht, manchmal bis zum frühen Morgen hinauszogen. Es kamen Männer und Frauen von Welt und vor allem von anderen großen Banken. Deshalb auch die vielen Schlafzimmer im Haus, wenn die Gäste so spät und mit Alkohol im Blut nicht nach Hause fahren konnten. Mich übersah er sowieso komplett. Mich gab es so gut wie gar nicht für ihn. Mein Bruder wurde als Haupterbe eingesetzt. In der Schule glänzte er nicht gerade. Am schwersten tat er sich im Fach Mathematik. Gerade das Fach, welches er später am dringendsten benötigte. Ich sollte nur das Wohnrecht bekommen. Mein Bruder entwickelte sich zum Spieler und Trinker. Häufig steckte er in Spielschulden, aus denen mein Stiefvater ihn auslösen musste. Doch er sah darüber hinweg. Er meinte: er solle sich erst die Hörner abschlagen. Das gehöre schließlich zur Jugend. Trotzdem sollte er der Erbe seines Imperiums werden. Er sah ihn als seinen einzigen, leiblichen Sohn, der nach seinem Tod die sieben Banken mit Erfolg weiterführen sollte. Sein Stolz auf ihn kannte keine Grenzen.“ Brandon machte eine kurze Pause.

      „Als ich dreizehn Jahre alt wurde, fuhren meine Eltern mit meinem Bruder zu einer Gartenparty. Auf dem Weg dorthin verunglückten sie. Alle drei verstarben noch an der Unfallstelle. Mein Stiefvater besaß keine weiteren Verwandten, soviel ich weiß und von Mutters Seiten wollte mich keiner haben, weil ich ein Kuckucksei war.“

      Sein Blick wurde starr.

      „Gott nahm mir meine gesamte Familie, wenn es auch nie eine richtige war. Vor allem aber hat er mir meine Mutter genommen, die sich als einzige wirklich liebevoll um mich kümmerte bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr. Ab da übernahmen Doreen und Richard meine Erziehung. Bei ihnen konnte ich mich auch nicht beklagen, denn sie liebten mich wie einen eigenen Sohn. Und sie tun es heute immer noch. Mit achtzehn Jahren bekam ich die Banken übertragen. Plötzlich wurde ich, das Kind, das immer auf die Seite geschoben wurde, zum Multimillionär. Ein Glück, dass mein Stiefvater so gut ausgebildete Manager besaß, die alles in seinem Sinn weiterführten, bis ich alt genug war, sein Imperium zu übernehmen. Nur, ich hatte keine Ahnung vom Bankwesen. Ich wurde ja gar nicht als Erbe vorgesehen. Notgedrungen musste ich eine Kurzausbildung machen, so dass ich im groben Umfang verstand, um was es ging. Doch die Hauptaufgaben übernahmen immer noch die Manager. Trotzdem glaube ich sagen zu können, dass ich heute mehr davon verstehe, als mein Bruder damals. Doch mit Zahlen allein wollte ich mein Leben nicht zubringen und so studierte ich Veterinärmedizin zum Ausgleich.“ Erschöpft schloss er für kurze Zeit seine Augen.

      „So, nun wissen Sie, warum ich nicht mehr bete. Gott hat mir alles genommen, was ich besaß. Und jetzt kann ich nicht mehr laufen und habe außerdem noch diese abscheuliche Leukämie am Hals. Für was alles bestraft er mich denn noch? Die vielen Millionen bedeuten mir nichts. Lieber wäre ich arm, aber gesund“, murmelte er kaum hörbar die letzten Sätze und schloss die Augen, doch er schlief nicht.

      Eine große Stille trat ein. Nach einer Weile erkundigte sich Christin ganz leise: „Wie oft haben Sie das Grab Ihrer Familie besucht?“

      „Nur bei der Trauerfeier“, knurrte Brandon und drehte sein Gesicht weg von ihr seitlich ins Kopfkissen hinein.

      „Ich glaube nicht, dass Gott Sie verlassen hat, sondern Sie haben ihn verlassen, wenn Sie nicht mal mehr die Gräber besucht haben, um zu beten“, ließ sie ihn wissen.

      Brandon holte tief Luft und wollte ihr heftig entgegnen, doch plötzlich erkannte er den Sinn ihrer Rede. Er stieß die Luft wieder aus. Seine Augen hielt er geschlossen. Lange Zeit dachte er darüber nach, als Christin flüsterte: „Ich habe meinen Bogen in den Himmel gesetzt, zum Bündnis der Menschen mit mir.“ Sie wandelte den Spruch etwas ab, damit er es besser verstand. Sanft nahm sie seine Hand in ihre.

      „Gott ist immer da, auch bei Ihnen, selbst wenn Sie es nicht wissen. Er leitet eines jeden Menschen Wege, gute und weniger gute. Nur er weiß, dass alles seinen Sinn hat.“ Die Nonne erhob sich.

      Da hielt sie Brandon an der Hand zurück. „Habe ich denn alles falsch gemacht?“, flüsterte er.

      „Vielleicht nicht alles, wohl aber vieles. Doch ist es nie zu spät zur Umkehr“, antwortete sie. „Gott wird Ihnen verzeihen, weil er ein Gott der Liebe ist.“ Damit ging sie durch die Verbindungstür in ihr Zimmer.

      Wie kann man nur so einen unerschütterlichen Glauben haben, dachte er.

      Gordons Auto hatte sich so tief in den Schlamm und den Sand der Auffahrt gewühlt, dass Richard zwei Monteure von der nächsten Autowerkstatt anfordern musste. Sie teilten dem Arzt gleichzeitig mit, dass eine Reparatur Unsummen kosten würde und für ein achtzehn Jahre altes Auto nicht mehr rentabel sei. Wo jetzt so schnell ein neues oder auch gebrauchtes Auto herbekommen? Da übergab ihm Brandon einige Schlüssel zu seinen eigenen Autos. Er besaß mehrere davon.

      „Du kannst eines von meinen Autos haben. Suche dir eines aus. In der Garage stehen genug herum. Ich werde sowieso nicht mehr damit fahren können“, bot er ihm an.

      Gordons Freund stach schon immer heraus als ein Mensch, der gern andere beschenkte oder ihnen kostenlos seine Hilfe anbot. So auch jetzt wieder.

      Gordon fuhr am Sonntagmittag los, in Richtung Kloster Heilig