darüber im Klaren, dass etwas geschehen, sich eine Tür oder ein Fenster öffnen musste, sonst könnte es aus und vorbei sein mit einer gewissen Anna Hahn. Dabei wusste sie: Weder die Rückkehr zur Darstellung klassischer Muskelprotze noch die rigorose Abkehr von aller Natur, allem Natürlichen als Vorlage – die zwei Wege schlug man damals hauptsächlich ein – kam für sie in Frage. Was aber war, wenn es kein Drittes gab? Oder sie nicht das Zeug dazu hatte, dahin zu kommen? Eine Weile dachte sie daran, die Bildhauerei ganz sein zu lassen, bis sie einem von Tag zu Tag stärker werdenden Impuls folgend, schließlich aufhörte, krampfhaft auf die große Erleuchtung zu warten. Im Ergebnis, nach Wochen und Monaten heftigen stillen Hin und Hers, von dem weder Kollegen, Studenten noch die Familie etwas ahnten, führte sie das Alte und Gewohnte in anderer, klug modifizierter Form, gestraffter, dabei dennoch hinreichend feingliedrig bleibend, ja, oft geradezu detailverliebt auftrumpfend weiter. Das hatte im Grunde nichts mit wirklich großer Kunst zu tun. Es war, daran gab es für sie nie einen Zweifel, nur wenig mehr als solides, honoriges Handwerk. Das erreichte nun freilich auch nicht ein jeder und dessen brauchte sie sich fürwahr nicht zu schämen. Damit konnte sie, musste sie leben.
Als sie nach langer Zeit Grincana besuchte, die schon erwähnte Schulkameradin hatte sie eingeladen, suchte sie im Park des Friedens und der Völkerfreundschaft ihre einstigen Schmerzenskinder zunächst vergeblich. Schließlich, so schnell gab sie ihr Vorhaben nicht auf, entdeckte sie die Büsten in einem abgelegenen Teil des Terrains, umgeben von einer Schar offenbar seit Jahren ungehindert wuchernder Berberitzensträucher und dazu auch noch reichlich bespritzt mit Vogelkot. Eine schöne Überraschung. Wie konnte es dazu kommen? In Grincana sei nun einmal Hopfen und Malz verloren, es werde nur noch das Allernötigste getan und oft reiche es nicht einmal dafür, meinte die Freundin. Traurig, aber wahr.
An der Situation sollte sich vorderhand nichts ändern. Das entnahm Anna der Korrespondenz, die sie seitdem mit der Kameradin führte, einer am Schicksal der Heimatstadt rege Anteil nehmenden, stets haarklein eine Fülle von Einzelheiten ausbreitenden Grundschullehrerin. Als nicht unbedingt förderlich für die Anlage am Bahnhof erwies sich, dass es in der Heimatstadt noch einen zweiten, größeren Park gab, mit lichten Eichen- und Buchenhainen, alten Lindenalleen, einem sorgsam komponierten Pinetum und einem See in der Mitte, dem der Parkschöpfer, ein namhafter Gartenarchitekt der ausgehenden Fürstenzeit, die buchtenreiche Form eines Ahornblatts verordnet hatte. Das Areal, zu dem auch ein kleines Lustschloss, ein von fernöstlicher Kultur inspirierter lauschiger Pavillon und eine eigene Blumenkultur gehörten, war weithin ein Begriff. Nach dem Krieg hatte die Anlage, die bis dahin den Namen eines vormals in Grincana regierenden Reichsgrafen trug, den Namen des sarkundischen Revolutionsführers Nikolai R. Lawrow erhalten. Am Eingang war ein Porträt-Relief des Umstürzlers angebracht und nicht weit davon auch noch eine überlebensgroße Bronzeplastik aufgestellt worden. Sie zeigte einen sarkundischen Soldaten, der mit bloßen Händen eine übermächtige Felsplatte sprengt. Vor dem Monument fand jedes Jahr im Mai am Tag des Kriegsendes ein Appell statt, an dem Schulklassen und Abordnungen aus Betrieben und Massenorganisationen teilnahmen. Wiewohl dem Lawrow-Park somit eine große Aufmerksamkeit und Bevorzugung zuteil wurde, war er andererseits aus denkmalschützerischen Gründen, er galt als überregional bedeutsames Gartenkunstwerk, nicht für unterhaltsame Freiluftveranstaltungen geeignet. Dergleichen Dinge, Volksfeste, Märkte, Ausscheide, bei denen Fanfarenzüge, Blasorchester, Rockbands, Tanzensembles oder Chöre ihre Kräfte maßen, mutete man bedenkenlos dem kleineren Bruder am Bahnhof zu, wo eine Freilichtbühne errichtet und ein Teil der Fläche betoniert wurde, damit bei Bedarf problemlos Bankreihen gestellt werden konnten. Die Büsten der Dichter rückten im Zuge dieser Entwicklung immer weiter an den Rand, gerieten am Ende nahezu völlig in Vergessenheit.
Die an der Stelle vorgesehenen literarisch-musikalischen Pogramme hatten zunächst in einem bescheidenen Rahmen stattgefunden. Später sah man von dergleichen Veranstaltungen ab. Es gab in der Stadt Orte, die für den Zweck besser taugten, mehr mit Gegenwart und Zukunft verbunden zu sein schienen als der beschauliche kleine Park mit den Denkmalen. Als ein junger, von Tatendrang erfüllter Literaturlehrer anderer Meinung war, sich dafür stark machte, dass Schüler zu den Dichter-Geburtstagen Blumen vor die Standbilder legten und zum Gedenken einige passende Verse rezitierten, untersagte ihm das sein Direktor unter Hinweis auf eine Weisung der Unteren Schulbehörde. Das Begehen von Gedenktagen im öffentlichen Raum, hieß es darin, sei zentral geregelt. Spontane Aktionen außer der Reihe seien rechtzeitig anzumelden und bedürfen unbedingt einer gesonderten Antragstellung und Genehmigung. Im vorliegenden Fall werde dafür nach eingehender Beratung und in Abstimmung mit den zuständigen übergeordneten Partei- und Staatsorganen keine dringliche Notwendigkeit gesehen.
So verging Jahr um Jahr. In Grincana machte sich, diesen Eindruck musste Anna gewinnen, kaum jemand mehr Gedanken über den kleinen und den großen Park. Die unterschiedlichen Rollen und Bedeutungen schienen auf Ewigkeit zugewiesen. Dann kam jener stürmische Herbst, in dessen Folge alles anders wurde. Die allmächtige Geeinte Sozialistische Arbeiter- und Bauernpartei verlor über Nacht ihre bis dahin unangefochtene Vormachtstellung. Eine Reihe anderer Parteien gründeten sich und konkurrierten von nun an – oft ohne die geringste Rücksicht auf die Interessen des Gemeinwesens – um die Sitze im Stadtrat. Und natürlich war es so, dass der bis dahin allgegenwärtige sarkundische Einfluss mit jedem Tag mehr der Vergangenheit angehörte. Es gab wieder jede Menge privater Unternehmen, die einander zum Teil erbittert Konkurrenz machten. Und auch eine Menge anderer Dinge, Gepflogenheiten, Feste, Jubiläen, Denkarten, Ansichten, die in den vergangenen Jahrzehnten kaum noch Beachtung fanden oder als unstatthaft galten, waren auf einmal in alter Herrlichkeit wieder da. Kaum jemand hätte für möglich gehalten, wie schnell die verflossenen vierzig Jahre, als das Gemeinschaftliche im Vordergrund stand, alle das Gleiche haben und möglichst auch denken sollten, in Vergessenheit gerieten.
Im Sog dieser Veränderungen, die die meisten Menschen in Grincana zunächst als Riesenfortschritt empfanden, bekamen Park und Palais den Namen des Grafen Eckhard von Nabellen zurück, der beides hatte anlegen lassen. Das Relief am Eingang, das den Revolutionär Lawrow zeigte, wurde entfernt und mit den Appellen am Tag des Kriegsendes war es gleichfalls vorbei. Der bronzene Soldat, an dem man zunächst nicht zu rühren wagte, wurde einige Jahre später auf Beschluss des Stadtrats in einen verborgenen Winkel des alten Friedhofs verbannt. Dahin waren zuvor bereits die sterblichen Überreste sarkundischer Soldaten überführt worden, die bis dahin in einem Ehrenhain unweit des Theaters ruhten.
Über Walter Döring, auch das gehört in diese denkwürdige Periode, war zu lesen, dass man ihm seinerzeit übel mitspielte. Auf Grund falscher Beschuldigungen, wonach er einer oppositionellen Gruppierung innerhalb der Partei nahe gestanden haben soll, war er zunächst auf einen untergeordneten Posten weit weg von Grincana versetzt, dann sogar ans Fließband in einer Herdfabrik verfrachtet worden. Dort war seine Lungenkrankheit, die er sich unter der Radara-Herrschaft zugezogen hatte, schlimmer geworden und er starb wenige Monate später. Nach ihm jetzt eine Straße in Grincana zu benennen, war eine Weile in der Diskussion. Doch letztlich vermochte sich der Stadtrat nicht dazu durchzuringen. Die zu erwartenden Kosten wie mögliche Widerstände in der Bevölkerung gegen einen solchen Schritt wurden dafür geltend gemacht. Anna hatte da ihre Zweifel. Sie wusste von ähnlichen Fällen anderorts. Einen Genossen der früheren Staatspartei zu ehren, selbst wenn er wie Döring ein tragisches Opfer der Verhältnisse geworden war, fiel zu Zeiten schwer, wurde entweder auf die lange Bank geschoben oder fand in den zuständigen Gremien nicht die nötige Mehrheit. Anna schien das schlussendlich eine Form der Abrechnung mit der alten Ordnung zu sein, eine alles in allem wenig ehrenhafte Ersatzhandlung, nachdem klar war, dass letztlich kaum etwas Überzeugendes in dieser Richtung zu machen war. Es waren zu viele einstige Amtswalter und Nutznießer, denen man hätte zu nahe treten müssen. Und die, selbst die größten Schufte und Kanaillen unter ihnen, hatten im Falle des Falles angesichts der nun geltenden nachsichtigen liberalen Rechtsprechung beste Aussichten, ungeschoren davonzukommen. Es sah ganz danach aus, als ob am Ende die unerbittlichen Aufarbeiter, die Verfechter einer angemessenen Bestrafung und Sühne die Dummen waren. Was im Fall Walter Döring den Ausschlag gab, vermochte Anna nicht sagen.
Woran kein Zweifel bestand: Die Grincaner hatten in diesen Tagen auch noch andere Sorgen. Binnen kurzem waren fast alle größeren Fabriken, meist Zweigbetriebe der einst das Land prägenden überdimensionierten Kombinate, dichtgemacht geworden und auch der Stolz der Stadt, die Fachschule