Gunnar Kunz

Krähen über Niflungenland


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Gesang verstärkte die Zauberkraft des Wortes, das wusste jeder. Bestimmte Regeln waren dabei einzuhalten, damit die Worte ein Muster ergaben und sich nicht gegenseitig aufhoben. In Trance nahm die alte Frau eine Handvoll geweihter Erde, die sie von draußen mitgebracht hatte.

      Eine Gänsehaut bildete sich auf Grimhilds Arm. Thiota wollte dem Trank erdmegin beimischen! Plötzlich fürchtete sich die Niflunge. Waren die Mächte, die sie zu ihrer Unterstützung herbeirief, nicht zu groß, um kontrolliert zu werden?

      Thiota fühlte den Strom schwerer Energie von der dunklen, nach Moos und Farn riechenden Erde durch ihre Finger fließen. Ihre Hände kribbelten. Vorsichtig ließ sie ein paar Krümel in den Trank fallen und hauchte:

      »Erde, Erde,

      Kristallgebärende,

      Fruchtbare, Nährende,

      Reifende, Sprießende,

      Flur oder Grünende

      – bei jedem Namen

      rufe ich dich!«

      Thiotas Gesicht war angespannt. Ihr durfte kein Fehler unterlaufen. Ein Wort verfügte über die Kraft, das Gesagte zu erschaffen, ein Versprecher konnte unvorstellbare Folgen haben. Sie hob die mit Runen versehenen Holzstäbchen auf und ergriff das Messer. Dies war der entscheidende Augenblick. Schrift fixierte den Zauber und machte ihn dadurch mächtiger. Schriftmagie war stärker als Wortmagie, weil sie den Zauber dauerhaft band. Immer noch singend schabte Thiota die Runen ab und ließ die Späne in den Trank fallen.

      »Vergessen, verlieren,

      die Frau, die du liebst,

      der Treue du schworst.

      Ihr Antlitz verblasst,

      trinkst du die Runen.

      Verändern, verwandeln

      soll sich dein Sinn.

      Nicht schlafen sollst du

      vor Sehnsucht nach dieser,

      der herrlichen Jungfrau.

      Verlangen, verfallen,

      gefesselt dein Herz.

      Trinkst du die Runen,

      wirst nimmer begehren

      du Freiheit von ihr.«

      Thiota fühlte sich schwindlig, wie immer, wenn sie starke Magie benutzte. Vor ihren Augen tanzten farbige Kreise, und sie hörte Geräusche, die nicht wirklich da waren: Rauschen, Klingeln, dumpfes Pochen. Ein scharfer Geruch erfüllte ihre Nase. Außerdem plagten sie Kopfschmerzen. Es wurde höchste Zeit, die Trance zu beenden. Kontrolliert ließ sie die Spannung entweichen. Einen Augenblick lang musste sie die Augen schließen, bis die Welt aufgehört hatte, sich zu drehen.

      »Ist es fertig?«, fragte Grimhild unsicher.

      Thiota wünschte sehnlichst, dass ihre Besucherin ging, damit sie die Finger der Macht, die sie berührt hatten, abwaschen konnte. Und schlafen! Sie musste dringend schlafen! Mit zittrigen Händen goss sie den Trank in eine Flasche, verschloss sie und reichte sie der Niflunge. »Sei bei ihm, wenn er den Sud trinkt, und er wird dich mit neuen Augen betrachten.«

      Grimhild drückte die Flasche wie einen kostbaren Schatz an sich. »Sigfrid«, murmelte sie unhörbar, »jetzt bist du mein!«

      2.

      Ihre eigene Unentschiedenheit war das Schlimmste, fand Grimhild. Sie saß allein in der Großen Halle und wusste nicht, was sie tun sollte. Je länger sie die Flasche der Seherin auf dem Tisch ansah, desto monströser schien ihr der Plan. Gestern war sie erst spät von Thiota zurückgekehrt und hatte keine Gelegenheit gefunden, Sigfrid den Trank zu verabreichen – nein, das stimmte nicht. Sie hatte gezögert. Sie hatte nicht den Mut aufgebracht. Es war erdmegin in dem Trank!

      Ein Wiehern unterbrach Grimhilds Grübeleien. Sie stürzte ans Fenster. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie sah, wie Ivo die Pferde der Gäste aus dem Stall führte. Sigfrid bedachte ihn mit seinem typischen Lachen, und etwas zerriss in ihr. Sie konnte es nicht ertragen, dass er für immer aus ihrem Leben verschwand. Hastig riss sie den Verschluss von der Flasche und schüttete die farblose Essenz in einen Becher. Dann eilte sie zu einer Amphore und goss vom besten Wein dazu. Prüfend roch sie daran, konnte jedoch keinen anderen Geruch als den von Wein feststellen. Gut! In der Tür stieß sie mit Sigfrid zusammen und ließ dabei um ein Haar den Becher fallen.

      »Verzeiht, frūa«, sagte der Sachse höflich, »ich dachte, Euer Bruder wäre hier. Ich möchte mich von ihm verabschieden.«

      Grimhild schluckte. Ihre Kehle war trocken. »Ihr wollt uns wirklich schon verlassen?«, fragte sie und legte so viel Wärme in ihre Stimme, wie sie nur konnte. Vielleicht gab es eine andere Möglichkeit, ihn zurückzuhalten. Vielleicht genügte ihr natürlicher Zauber, um seinen Sinn zu ändern.

      »Eure Gastfreundschaft war ohnegleichen, aber ich muss fort.«

      Immer noch schreckte sie vor der Entscheidung, die ihre und seine Zukunft unwiderruflich festlegen würde, zurück, doch der Kampf in ihrem Inneren dauerte nur einen Herzschlag, dann trug ihr Verlangen den Sieg davon. »Wenn es sich denn gar nicht vermeiden lässt, so nehmt wenigstens diesen Abschiedstrunk von mir.« Ihre Hand zitterte, aber nur ein wenig, und sie verschüttete keinen Tropfen, als sie ihm den Becher reichte. Ihr Herz setzte aus, als Sigfrid daran roch.

      »Eure Weine sind gut«, sagte er.

      Grimhild hielt die Spannung kaum aus. Wenn er nicht gleich trank, würde sie sich durch ihre Nervosität verraten!

      Er hob den Becher. »År ok friðr!«, sagte er und trank.

      Gute Ernte und Frieden. Grimhild war nicht sicher, ob das, was sie mit ihrem Liebestrank gesät hatte, eine gute Ernte eintragen würde, geschweige denn Frieden. Aber sie hatte ihre Wahl getroffen, und nun war es zu spät, irgendetwas rückgängig machen zu wollen. Angespannt beobachtete sie den Sachsen und suchte nach einem Zeichen, dass er sich veränderte.

      Sigfrid setzte den Becher ab. »Nun muss ich wirklich gehen. Ich sehne mich nach …« Seine Augen verschleierten sich. »Nach … meiner Sippe«, sagte er schleppend. Da war noch etwas gewesen. Etwas Wichtiges. »Sippe«, wiederholte er benommen. Das Denken fiel ihm schwer. Immer, wenn er versuchte, sich auf etwas zu konzentrieren, wirbelten bunte Kreise vor seinen Augen. Ein schemenhaftes Gesicht. Braune Augen, schwarzes Haar, der Geruch von Kiefernharz. Er zog die Stirn in Falten. Seine Gedanken waren wie aufgeweicht, zäh und klebrig. »Sippe«, rief er sich in Erinnerung, aber er kam über das eine Wort nicht hinaus. »Ich werde langsam alt«, sagte er.

      Dann blickte er auf.

      Zum ersten Mal, schien ihm, sah er Grimhild wirklich. Er kniff die Augen zusammen, um nicht von der strahlenden Helle ihres silberblonden Haares geblendet zu werden. Wie kam es nur, dass er sie nie richtig betrachtet hatte? Ihre Lippen weckten in ihm den Wunsch, sie zu küssen, ihre Augen brachten seine Knie zum Zittern. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch keinem Menschen so verbunden gefühlt.

      Grimhild verbarg ihre Unsicherheit hinter einem Lächeln. Wirkte der Trank? Das unangenehme Schweigen dehnte sich bis in die Unendlichkeit. Mit jedem Wimpernschlag wurde die Stille bedeutungsvoller. Um Zeit zu gewinnen, leckte sie sich über die Lippen und suchte nach Worten. »Geht es Euch gut?«

      »Gut?« Verständnislos sah er sie an. Was konnte er sagen? Wie ihr erklären, was er fühlte? Die Worte in seinem Kopf waren widerspenstig, und als er schließlich sprach, bewegte sich seine Zunge unbeholfen, als sei er betrunken. »Ihr seid … außergewöhnlich schön.«

      Es tat körperlich weh, als sie die Anspannung losließ, die ihr bis eben den Atem abgeschnürt hatte. Jetzt war sie sicher, dass das Mittel wirkte. »Ich danke Euch, frō Sigfrid. Es ist sehr freundlich von Euch, mich zu bemerken.« Sie befand sich wieder auf sicherem Boden. Um das Feuer entflammter Männer in Gang zu halten, brauchte sie keine Seherin. Auf die Kunst, mit Blicken