unfassbar schlimmen Details, die ich erwähnen muss, „verdaubar“ bleibt. Diese Details habe ich bewusst nicht ausgespart, denn die Wahrheit über das Unrecht, das diese Gruppe begeht, muss zumutbar sein. Schon aus Respekt vor den Opfern.
Wien, im August 2015
1.
DSCHIHADMANIA
WARUM TAUSENDE EUROPÄISCHE JUGENDLICHE VON DER TERRORMILIZ DES „ISLAMISCHEN STAATES“ FASZINIERT SIND
Über Syrien, vor allem über den „Islamischen Staat“ (IS), dessen Sympathisanten und Fans zu schreiben, führt mich als Journalistin und Autorin an viele Grenzen. Zuerst einmal an die Grenze des Erträglichen: Seit sechzehn Jahren recherchiere ich in Krisen- und Konfliktgebieten. So gut es geht, musste ich mich daran gewöhnen, nach Bombenanschlägen die Toten und Verwundeten zu sehen, mit Folteropfern zu reden, mit Frauen, die im Krieg vergewaltigt wurden. Mittlerweile kann ich dabei ruhig und empathisch bleiben und professionell als Reporterin agieren. In Syrien allerdings gab und gibt es Momente, in denen ich fast scheitere. Mit Ausbruch der Revolution 2011 und dem darauf folgenden Bürgerkrieg setzte sich eine Spirale fürchterlicher Gewalt in Gang, die ich bei meinen Reisen in das Kriegsgebiet mit jeder neuen, horrenden Drehung erlebe. Menschen, die ich interviewte, sprachen nicht nur mit mir, manchmal brüllten sie mich an, etwa nach ziellosen Bombenangriffen auf die Stadt Aleppo durch die Armee von Baschar al-Assad. „Wie könnt ihr das zulassen? Wieso?“ Es waren Väter, die neben ihren eben getöteten Kindern standen, deren Blut in den Staub sickerte. Und ich stand daneben und zitterte. Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Weil ich eben noch die Kinder beim Spielen gesehen hatte, in Fußballdressen, lachend. Weil ich Angst hatte: vor der nächsten Bombe, vor den Insassen des nächsten Autos, die es vielleicht darauf angelegt hatten, mich zu entführen. Stück für Stück rückte ich selbst ins Visier. Journalisten gelten als „wertvolle Beute“ für die Terrormilizen. Lösegeld in zweistelligen Euromillionen sind sie wert. Oder sie werden brutal ermordet, dabei auf „IS“-Propagandavideos global vorgeführt.
Dieser Konflikt schien und scheint aussichtslos. Mit geradezu entfesselter Gewalt agieren in Syrien alle Konfliktparteien, besonders aber die Miliz des IS. Mit dem Elend als Nährboden wurde sie von einer von vielen Rebellenfraktionen zur globalen Terrorgroßmacht. Im Juni 2014 rief der Führer des IS das „Kalifat“ aus, das sich mit Stand Sommer 2015 – dem Redaktionsschluss dieses Buches – auf die Hälfte Syriens und weite Teile des Irak erstreckt. In der Region, die etwa die Größe Großbritanniens hat, leben etwa acht Millionen Menschen. Dazu schlossen sich in über zwanzig Ländern Terrorgruppen der Organisation an, gliederten sich dem „Kalifat“ ein. In Libyen hielt im Sommer 2015 eine „Filiale“ des IS mehrere Städte und regierte hier mit derselben Grausamkeit wie ihre Verbündeten in Syrien und im Irak. Wie brutal sie agieren, kann jeder und jede via Internet täglich mitverfolgen. Mit modernstem Equipment und Medien-Know-how werden Propagandafilme und Fotos produziert, die steinzeitliche Barbarei als Errungenschaft im Namen einer Religion vermarkten, Massenexekutionen zeigen und lächelnde „Gotteskrieger“, die stolz darauf sind, zu morden.
Dieses Material zu sichten bedeutet für mich, einen Blick in menschliche Abgründe zu tun. Die rituelle Tötung von Journalistenkollegen bekomme ich da vorgeführt. Oder Kreuzigungen. Kinder, wie sie die Leichen der Exekutierten auf den öffentlichen Plätzen anstarren. Den blutenden Stumpf einer amputierten Hand eines Diebes, der Rest des Armes noch in einen azurblau lackierten Schraubstock gezwängt. Ein Maschinengewehr, das eine Frau stolz neben ihr Baby in den Kinderwagen legt, die ersten Betonklötze, die während einer Steinigung auf eine Frau geschleudert werden. Ihre Schreie.
„Das Fürchterlichste, was bisher geschehen ist, war diese Steinigung“, erzählte mir ein junger Mann, der in der Hauptstadt des Kalifats, der syrischen Stadt Raqqa, lebt und mir unter Lebensgefahr half, die Hintergründe solcher Videos zu verstehen: „Eine Frau namens Fadda soll ihrem Mann untreu gewesen sein. Sie haben sie auf einen Platz in der Nähe des Sportstadions gezerrt. Ein Mann las das Urteil vor: Nach den Gesetzen Gottes müsse diese Ehebrecherin gesteinigt werden. Mit einem Lastwagen brachten sie schwere Steine. Viele waren da. Hundert oder so. Aber von den Menschen aus Raqqa nahm niemand einen Stein. Da brüllten die Milizen herum. Aber die Leute rührten sich nicht. Nur die ausländischen Kämpfer griffen zu. Sie lachten, als sie die Steine warfen. Mein Freund Mohammed war dort. Wie Tiere, sagte er, hätten sie sich benommen. Und er sei starr geworden. Er habe sich gefühlt, wie wenn seine Organe zu Eisklumpen geworden wären. An diesem Abend war es heiß, 40 Grad. Aber Mohammed glaubte zu erfrieren.“1
Wie der Mann betonte, zählen zu den besonders brutalen Mitgliedern der Miliz Jugendliche, die aus Europa nach Syrien und den Irak ziehen, um sich als folternde und kaltblütige Gotteskrieger zu profilieren. Seine Beobachtung deckt sich mit vielen anderen Augenzeugenberichten. Und so stoße ich hier an meine nächste Grenze: Es ist schlicht unfassbar, warum sie das tun: Wieso stürzen sich junge Europäer in Kampfmontur auf wehrlose Menschen, werden zu Selbstmordbombern in irakischen Städten und verschlimmern damit das Leid in der Krisenregion, treiben noch mehr Menschen in die Flucht? „Hier in Europa geboren zu sein kommt einem Lottosechser gleich“, betont Nahost-Korrespondent Karim El-Gawhary, der in einem Buch Schicksale von Flüchtlingen aufzeichnete, die versuchen, in klapprigen Booten übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen.2 Viele stammen aus Syrien, von wo laut Angaben der Vereinten Nationen im Sommer 2015 bereits die Hälfte der Bevölkerung im In- und Ausland auf der Flucht war. So wie Husam, ein Teenager aus Raqqa. Er würde Karim El-Gawharys Aussage, wie Millionen andere Menschen, sofort unterschreiben. Drei seiner Finger wurden von Schergen des IS amputiert, weil er eine Zigarette geraucht hatte. Husam gelang die Flucht nach Österreich und dann in Wien in einer Wohngemeinschaft unterzukommen. Hier zu sein nennt Husam „Glück“. Andere Jugendliche, die in demselben Wien leben – oder leben könnten –, werfen dieses „Glück“ weg, verbrennen ihren EU-Pass und machen daraus ein weiteres der unzähligen IS-Propagandavideos.
Dies tat im März 2013 auch der damals 28-jährige Mohammed Mahmoud. Er zündete seinen Pass an und quasselte dazu wilde Terrordrohungen in die Kamera. Er ist in Österreich geboren und aufgewachsen, seine Eltern stammen aus Ägypten. Seit dem Sommer 2014 dürfte er in der Hauptstadt des Terrorstaates für Propaganda in Europa zuständig sein. Bereits 2007 war er in Österreich als Drahtzieher der „Globalen Islamischen Medienfront“ verurteilt worden. Schon damals hatte er sich als PR-Mann in Sachen Terror positioniert und dürfte seine Zeit im Gefängnis dazu genutzt haben, am Konzept globaler PR-Offensiven zu arbeiten. Im vierten Kapitel dieses Buches analysiere ich, warum er so „erfolgreich“ sein konnte und wie er zu einer der führenden Figuren des IS wurde.
DAS PHÄNOMEN DES POP-DSCHIHADISMUS
Möglicherweise ist es ein grundlegender Fehler, „nur“ wegen der Terrorbedrohung durch den IS vor Figuren wie diesem Mohammed in Panik zu geraten. Tausende Europäer und Europäerinnen haben sich der Gruppe angeschlossen. Hunderte kehren und kehrten bereits zurück: Das macht Angst. Aber ebenso gefährlich scheint es zu sein, dass sich mit hoher Wahrscheinlichkeit Zehntausende mehr oder weniger heimlich mit der Gruppe solidarisieren und mitten in Europa Pläne schmieden, den „Heiligen Krieg“ – den Dschihad – hier auszutragen.
Dieser Begriff kursiert mittlerweile geradezu inflationär in der Alltagssprache, wobei ihn viele Muslime ganz anders verwenden würden. Vereinfacht lässt sich Dschihad folgendermaßen definieren: Im islamischen Religionsverständnis gibt es den „großen“ und den „kleinen Dschihad“. Dabei bezeichnet der „große Dschihad“ den inneren Kampf eines Menschen, ein rechtschaffenes Leben zu führen, sich gegen Verlockungen zu wehren, die einen von einem tugendhaften Weg abbringen. Mit dem „kleinen Dschihad“ ist der bewaffnete Kampf gemeint, der unter bestimmten, in islamischen Rechtsquellen sehr klar definierten Voraussetzungen zur Verteidigung von Muslimen geführt werden darf. Den Krieg, den der IS führt, würde deshalb kaum ein Muslim als „legitimen Dschihad“ bezeichnen.
Der Begriff hat sich aber verselbstständigt und beschreibt als „Dschihadismus“ eine Strömung des ultrakonservativen Islam, die jegliche Abweichungen von ihrer strengen dogmatischen Lehre als