Ideologie beschreibt. Es ist ein Weltbild, das von so viel Gewaltbereitschaft, Hass und Fanatismus geprägt ist, dass selbst die berüchtigte Terrororganisation „al-Kaida“, aus deren Reihen die Gruppe hervorging, sich von ihr lossagte.
Doch der IS ist schon lange mehr als nur eine weitere Terrorgruppe. Es ist ein Staat, eine Ideologie und zu einem beträchtlichen Teil eine Protestbewegung von Jugendlichen. Er hat ein Paralleluniversum aufgebaut – vor allem online. Die Gruppe verfügt über ein eigenes Branding und Merchandising. Ihre Insignien werden zum Logo, das auf T-Shirts, Kaffeetassen und Baseballmützen prangt. Wichtige Werbeträger der Bewegung, quasi ihre Ikonen, sind die ausgereisten europäischen Dschihadisten, besonders Frauen, die sich dem IS anschließen. Nur warum scheint es für viele Jugendliche, die in Europa aufgewachsen sind, trendig, sich mit den Codes einer Terrorgruppe zu schmücken, die Menschen quält, ermordet und brutal erniedrigt?
Als ich begonnen habe, an diesem Buch zu schreiben, hat sich vermutlich fast jeder irgendwann einmal diese Frage gestellt. In Österreich sorgten damals, im Frühling 2014, die Abschiedsbriefe der beiden sogenannten „Dschihad-Bräute“ für Aufregung: „Sucht nicht nach uns. Wir dienen Allah und werden für ihn sterben.“ Diese Worte hinterließen die 16-jährige Samra und die 15-jährige Sabina3 ihren Eltern und machten sich aus Wien gen Syrien auf. Die Fotos der Schülerinnen kursierten weltweit: in westlicher Kleidung mit langen offenen Haaren. Lebensfroh, modern, fröhlich. Sie waren vielleicht nur zwei Mädchen, die sich in eine Idee verrannt hatten, sich dabei selbst überholten und nicht mehr den Weg zurück fanden. Anhaltspunkte wie das Geschmiere von „I love al-Kaida“-Slogans auf die Wände der Klassenzimmer hatten wenige Monate zuvor den Schuldirektor ihrer Schule auf den Plan gerufen. Gespräche mit Eltern, Versuche, sie zu disziplinieren, halfen nicht. Vielleicht war es nur eine hochgradige pubertäre Verirrung. Nur ändern solche Motive nichts daran, dass sie zur Avantgarde einer gefährlichen Bewegung hochstilisiert wurden.
Viel hatte die PR-Abteilung des IS nicht zu tun, um aus ihnen Ikonen zu machen. Da halfen viele westliche Medien unfreiwillig, aber tatkräftig mit. In großen Lettern und mit ganzseitigen Fotos wurde die äußere Metamorphose der Teenager – aus den Slim-fit-Jeans in den schwarzen Umhang, der Niqab – illustriert. Es wurde und wird übersehen, dass solche Geschichten nicht nur empört rezipiert werden, sondern von manchen Lesern – und vor allem Leserinnen – als Bestätigung einer Ideologie verstanden werden. Jede unreflektierte Schlagzeile, jedes Titelbild aus den Archiven des IS verstärkt deren Botschaft. Es sei so vor allem eine Form der Jugend-Protestbewegung geworden: „Der Punk des 21. Jahrhunderts trägt eine Niqab“, sagt Olivier Roy, Professor an der Universität Florenz und Autor zahlreicher Bücher zu islamistischem Extremismus. Er will das Phänomen IS nicht vorrangig als religiösen Wahn, sondern als neuen Kult definieren: „Die Fans haben ihre eigene Ausdrucksweise, einen eigenen Dresscode.“ Maßgeblich sei dabei das Image: „Sie wollen Helden sein, darum ist die Darstellung ihrer Vertreter in den Medien besonders brisant.“4
Jene, die nach Syrien ausreisen, werden so zum doppelten Problemfall: Die Verrohung durch den Alltag im IS, die Ausbildung zu Terrorkämpfern kann selbst aus harmlosen, sozialromantischen Verirrten indoktrinierte Extremisten machen, die nach ihrer Rückkehr ein gewaltiges Risiko darstellen. Die pausenlose Selbstdarstellung in Heldenpose nährt dazu einen Mythos und wird zur Werbesendung für die Gruppe. Anders als die „al-Kaida“, die sich als elitäre Vorhut empfand, will der IS eine Massenbewegung sein. Die Faszination der Gegenkultur des Dschihad sei ein viel größeres Problem, als man vermuten würde, betont Nazir Afzal. Der ehemalige britische Staatsanwalt ortet eine regelrechte „Dschihadmania“: „Buben wollen so sein wie die IS-Kämpfer, genauso wie die Mädchen. Sie bauen ein Image auf, das sie wie ein Magnet anzieht, glamourös erscheint.“ Dabei sei die Realität eine gänzlich andere: „Es sind narzisstische mordlüsterne Cowboys. Dieses Bild sollten wir in der Öffentlichkeit vermitteln, nicht jenes von Popidolen.“5
Diese Forderung zeigt mir wieder eine Grenze auf: Ein Buch über die Fans des IS zu schreiben darf der Gruppe kein Forum bieten. Deshalb wird man hier vergebens nach unreflektiert übernommenen Schilderungen von „Gotteskriegern“ und „Dschihadisten-Bräuten“ suchen und ich werde auch das Material von ausführlichen journalistischen Berichten, die in Kooperation mit dem IS entstanden, nicht als Quelle verwenden. Vielmehr soll dieses Buch helfen, die Bewegung zu „entzaubern“, und den Horror, für den sie steht, offenlegen. Ihre Anhänger sollen als das gezeigt werden, was sie sind: gestrandete Existenzen. Jugendliche in Europa, die meinen, dort ihr Glück zu finden, müssen daran erinnert werden, mit wem sie gemeinsame Sache machen. Nicht mit glorifizierten Märtyrern, sondern mit Menschen, die ihre Widersacher kreuzigen; mit Männern wie Seifeddine Rezgui, der im tunesischen Badeort Sousse am 26. Juni 2015 mit einem Maschinengewehr 38 europäische Touristen eiskalt erschoss. Am Strand. Beim Baden. In der Sonnenliege.
Dem IS geht es längst nicht mehr darum, im Bürgerkriegsland Syrien und im chronisch instabilen Irak als neue Ordnungsmacht zu reüssieren oder die Utopie eines „Kalifats“, eines transnationalen Staates aller Muslime, zu realisieren. Es geht um die Errichtung einer Ordnung, die auf roher Gewalt basiert und den Rest der Welt terrorisiert. So rief Abu Mohammed al-Adnani, der Sprecher des IS, im Herbst 2015 „alle Muslime im Westen dazu auf, einen Ungläubigen zu finden und seinen Schädel mit einem Stein zu zertrümmern, ihn mit dem Auto zu überfahren, seine Ernte zu vernichten“.6 Jugendliche wie die jungen Wienerinnen Sabina und Samra glaubten in einer Gedankenwelt, wie sie Adnani vertritt, eine neue Heimat zu finden. Warum das möglich war, darum geht es vorrangig in diesem Buch. Oder wie aus einem jungen Mann, wie dem 26-jährigen Mohammed Emwazi, ein graduierter IT-Experte, der in geordneten Verhältnissen am Stadtrand Londons groß wurde, ein sadistischer Mörder wurde, das als „Jihadi John“ bekannt ist. Er sorgte dafür, dass dieses Thema mich auch an eine Grenze meines Berufes führt: Kann ich angesichts der Bedrohung durch den IS in den Regionen, wo meine Berichterstattung vor Ort am wichtigsten wäre, etwa in Syrien, noch weiterarbeiten?
Der amerikanische Journalist Jim Foley wurde von Mohammed Emwazi am 19. August 2014 enthauptet. Ich kannte ihn, ebenso die anderen Journalisten – Kenji Goto und Steven Sotloff –, die ebenso brutal getötet wurden. Steven wurde im Sommer 2014 direkt an der türkisch-syrischen Grenze entführt. Ich hatte damals nur wenige Tage vor ihm die gleiche Route genommen. Er war mit jenen Übersetzern unterwegs, mit denen ich kurz vor seiner Entführung zusammengearbeitet hatte. Um illegal nach Syrien zu gelangen, in die von Rebellen gehaltenen Territorien, ist man auf die Hilfe solcher „Übersetzer“ angewiesen. Geht etwas schief, stehen die Chancen auf Rettung gleich null. Es war Zufall, dass er und nicht ich in die Hände der IS-Miliz geraten war.
Fast dreißig Reporter waren Mitte 2014 in der Gewalt des IS. Aus Beobachtern des Konfliktes wurden Akteure. „Eine Nachricht an Amerika“ nannte der IS das Video über die Hinrichtung Jim Foleys. Er trug eine orange Uniform wie die Häftlinge aus dem US-Gefangenenlager Guantanamo. Sein Tod wurde als Racheakt auf den damals eben begonnenen Luftkrieg durch die USA und seine Alliierten gegen Stellungen des IS inszeniert. „Ich starb an dem Tag, als deine Kollegen begannen, Bomben abzuwerfen“, wurde er gezwungen zu sagen, adressiert an seinen Bruder, der US-Soldat ist. „Ihr bekämpft nicht länger einen Aufstand. Ihr bekämpft eine islamische Armee“, verkündete sein schwarz gekleideter Henker Mohammed Emwazi, bevor er begann, Jims Kopf abzutrennen.
Es waren stumpfe Klingen, die – wie immer im IS – bei den Enthauptungen verwendet werden: „Um den Schmerz zu erhöhen“, gab ein von einer kurdischen Miliz gefangen genommener IS-Kämpfer zu Protokoll. Zuvor würde die Hinrichtung in zahlreichen Scheinexekutionen mit den Gefangenen „geprobt“, wie ein Mann namens „Saleh“, der sich in die Türkei abgesetzt hatte, erzählt.7 Er behauptet, bei mehreren Videos von Enthauptungen im Hintergrund mitgewirkt zu haben. „Die Geiseln wirken auf den Videos alle so ruhig, weil sie glauben, es würde sich nur um die Drohung einer Exekution handeln“, so „Saleh“. Ein anderer Augenzeuge, der sich „Adnan“ nennt und vor seiner Flucht beim IS Gefängniswärter war, erlebte dies bei einem Häftling: „Die Kämpfer haben wieder und wieder Kinder kommen lassen, die eine Pistole an seinen Kopf richteten und abdrückten. Es wiederholte sich jeden Tag. Immer filmten sie mit. Die Pistole war nie geladen. Bis auf den letzten Tag seines Lebens.“8
DAS