Johannes Sachslehner

Alle, alle will ich


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– ist daher für ihn kein Kriterium, auch wenn er manchmal selbst über die „Unsauberkeit“ seiner „inneren Verhältnisse“ und seinen „Leichtsinn ohne Kraft“ klagt – er will sich um jeden Preis die Freiheit bewahren, keine der Frauen „abweisen“ zu müssen, die bei ihm ihr Glück suchen wollen, ja, „das Bewußtsein sie haben zu können genügt oft“. Die Konsequenz: Auch „die andern alle, alle will ich …“ (TB, 19. März 1896), am liebsten wäre ihm gleich der Status Polygamie, wie er während seines Aufenthalts in Paris im Mai 1897 im Diarium vermerkt: „Sag ich mir die Wahrheit: das liebste wär mir ein Harem; und ich möchte weiter gar nicht gestört sein. Es ist zu bezweifeln, dass ich zur Ehe geboren“ (TB, 6. Mai 1897); einen Tag später wird er noch deutlicher: „(…) der Gedanke an Ehe erfüllt mich mit Grausen“. (TB, 7. Mai 1897) – Äußerungen, die charakteristisch für Schnitzler sind; um sie besser verstehen zu können, sei noch auf den Kontext dieser Einträge verwiesen: Auf der Flucht vor einem Skandal in Wien ist Schnitzler gezwungen, etwa zwei Monate mit seiner schwangeren Freundin Marie Reinhard in einer Wohnung in der Rue Maubeuge 5 zu leben. Die „Kleinheit der Zimmer“ und auch seine „sanfte“ Mizi gehen ihm manchmal auf die Nerven, wie er sich im Tagebuch des Öfteren eingesteht: „Heut war mir Mz. eher langweilig und ich empfand es nicht angenehm an sie gebunden zu sein. Merkwürdig wechselt das. –“ (TB, 19. Mai 1897)

      Ja, Schnitzler scheut „fixe“ Bindungen, denn er hat Angst, dass sie seine große „Kraftquelle“, eine vielfältig ausgelebte Sexualität, beschneiden und ersticken könnten. Notorische Untreue ist dem Lebenskonzept Schnitzlers immanent, in immer wieder neuen erotischen Abenteuern offenbart sich ihm, wie er meint, die Wahrhaftigkeit des Lebens. Die Regeln in diesem Spiel gibt er vor: Es sind die Regeln des gesellschaftlich überlegenen Mannes, des Bonvivants und Ästheten, denen sich seine Geliebten unterwerfen müssen. Es ist ein Spiel, das er mit der zynischen Sicherheit eines wahren erotischen Virtuosen beherrscht, das ihn in unglaubliche Situationen manövriert, aus denen er sich doch immer wieder befreien kann. Wollte man diesen Befund kritischer und aus Sicht der Frauen formulieren, so müsste man einfach sagen: Schnitzler betrügt und belügt sie und verlässt sie am Ende doch.

      Schnitzler ist praktischer Polygamist und durchaus stolz darauf, ein Berserker der Liebe, der seine „Leistungen“ peinlich genau dokumentiert: Er vertraut sich seinem einzigen treuen Lebensbegleiter, dem Tagebuch, an und agiert darin als penibler Statistiker seiner sexuellen Potenz. Der Liebesakt ist für ihn etwas Besonderes, etwas, das in Erinnerung bleiben soll, etwas, das nicht dem Vergessen anheimfallen darf. Offenbar um sich immer wieder seiner sexuellen Lebendigkeit zu vergewissern, verzeichnet der junge Schnitzler im Diarium seine erotischen Siege mit buchhalterischer Akkuratesse – so sind wohl die immer wieder im Zusammenspiel mit den Namen der „Mädel“ auftauchenden Ziffern zu interpretieren, eine Gewohnheit, die er bis zum „Verrat“ und „schauerlichen Verlust“ von Marie Glümer 1893 beibehält. Die Zahlen, die er Tag für Tag und Monat für Monat notiert, sind beeindruckend: Bereits knapp vor Mizis verhängnisvoller Abreise ins Engagement nach Wiesbaden kann Schnitzler „400“ Liebesakte mit ihr, verteilt auf den Zeitraum Juli 1889 bis August 1892, verbuchen; ebenso imponierend die Gesamtzahl der mit Anna „Jeanette“ Heeger verbrachten Liebesstunden: „564“, verteilt auf den Zeitraum September 1887 bis Januar 1890.

      Wenn in Schnitzler-Biografien sein Hang, in der fragmentarischen Autobiografie Jugend in Wien keines der Mädchen, mit dem er eine „Liebelei“ hatte, unerwähnt zu lassen, kritisiert wird – Tenor: Das sei nun doch wirklich nicht nötig –, so verkennt man die Tatsache, dass Schnitzler hier in absoluter Übereinstimmung mit seiner persönlichen inneren Verfasstheit agiert: Er arbeitet sein Leben auch in der Retrospektive so ab, wie er es einst Tag für Tag aufgeschrieben hat: anhand von Erlebnissen mit Mädchen und Frauen und niemand von ihnen soll vergessen sein. Nicht zufällig lässt er wenige Jahre vor seinem Tod eine Liste aller Frauennamen – heute im Schnitzler-Nachlass an der Universität Freiburg – anfertigen, die in seinem Tagebuch erwähnt werden und die entsprechenden Daten der Tagebucheinträge zuordnen, eine Konkordanz sozusagen zur Erschließung seiner erotischen Biografie. Wer die Liste genau studiert, bemerkt, dass Schnitzler bei ihrer Erstellung persönlich mitgewirkt haben muss – einzelne Daten sind mit Unterstreichung markiert und verweisen meist darauf, dass er eine Frau an diesem Tag erstmals „besass“.

      An dieser Stelle noch eine Anmerkung: Zahlreiche Arbeiten zu Schnitzler haben ein Grundproblem: Sie unterschätzen in dramatischer Weise die elementare Bedeutung, die den Beziehungen zu Frauen im Leben und Schaffen des Dichters tatsächlich zukommt. Schnitzler, sein Tagebuch zeigt es eindrucksvoll, ist ein Narziss. Er braucht die Bewunderung und die „Liebe“ der Frauen, er lebt mit dem „Bedürfnis, immer was weibliches verlangendes“ um sich zu haben (TB, 13. Dezember 1892), und er schreibt auch darüber. Wenn man daher etwa im 2014 erschienenen Schnitzler-Handbuch die Namen zahlreicher Frauen, die seinen Weg gekreuzt haben und mit denen er zum Teil jahrelang zusammengelebt hat, vergeblich sucht und auch Marie „Mizi“ Glümer, jene junge Frau, die ihn wie keine andere Geliebte bewegt und erschüttert hat, auf 400 Seiten nur sechsmal erwähnt wird, so zeugt das von Ignoranz. Von einer Ignoranz, die kaschiert wird mit gespreizter, „wissenschaftlich“ klingender Metasprache. Nun soll hier keineswegs einer ausschließlich biografischen Deutung seiner Texte das Wort geredet werden, aber die Behauptung soll gelten: Wer sich nicht die Mühe macht, das biografische Umfeld eingehend zu studieren, wird Schnitzlers Werke nicht wirklich verstehen und nicht authentisch zu deuten wissen. Um an einem Beispiel zu zeigen, was gemeint ist, sei die 1894 erstmals veröffentlichte kleine Erzählung Blumen herangezogen, in der Schnitzler kunstvoll seine Erlebnisse mit zwei Frauen zusammenfließen lässt: die Untreue Marie Glümers und den vermeintlichen Tod von Helene Kanitz, der ihm von einem Onkel des Mädchens bekannt gegeben wird. Ignoriert man diese biografischen Ausgangspunkte, kommt man zu folgender Aussage: „In insgesamt 14, stockenden und zeitweise bewusstseinsstromartig mäandernden Einträgen berichtet ein biographisch nahezu konturloses, männliches Ich von einer ‚unerhörten Begebenheit‘ und der daraus resultierenden Zerrüttung seines Seelenlebens.“ (Peer Trilcke, Schnitzler-Handbuch) Schon ein kurzes Abgleichen mit der Biografie würde es erlauben, dieses „konturlose, männliche Ich“ und seine seelische „Zerrüttung“ authentisch zu interpretieren.

       Ein perfekter Kavalier: Abschied von der Geliebten. Bleistiftzeichnung von Moritz Coschell zum „Anatol“-Einakter „Weihnachtseinkäufe“.

      Schnitzlers Blick auf die Frauen ist nicht unproblematisch – wobei wir hier nicht von seinen literarisch „überformten“ Frauengestalten sprechen wollen. Die „Weiber“, so verrät die Sprache des Tagebuchs, sind anders: Sie sind „Geschöpfe“ oder auch „Wesen“, immer wieder deutlich zu spüren ist ein leicht verächtlicher, despektierlicher Ton, der an die zynische Sprache der k. k. Kasernen und an den Halbwelt-Jargon des Praters erinnert, an Milieus, die dem jungen Schnitzler nicht unbekannt sind und die auch sein Frauenbild prägen: Hier wurzelt seine Überzeugung von der grundsätzlichen „Lügenhaftigkeit“ der „Weiber“ und ihrer allzeit möglichen Untreue, von ihren „sonderbaren Launen“ und ihrer Dummheit – ja, der Medizinstudent Schnitzler macht die Erfahrung, dass die Mädchen, die er so kennenlernt, ihm an Bildung und Intellekt nicht das Wasser reichen können, eine Erfahrung, die auch seine späteren Beziehungen belastet, denn er wird diesen penetranten Gestus der Überlegenheit nicht mehr los – davon zeugt etwa in den Briefen an seine Geliebten die häufig verwendete Anrede-Formel „mein Kind“. Einen wohltuenden Kontrast dazu bilden Schnitzlers literarische Texte, denn hier setzt er diese Formel geschickt ein, um das gesellschaftliche Ungleichverhältnis zwischen Mann und „gefallener“ Frau zu illustrieren: So verrät etwa der Musiker Emil Lindbach, unverkennbar ein Alter Ego Schnitzlers, in der Erzählung Frau Berta Garlan seinen Dünkel genau mit dieser Wendung.

      Glaubt man Schnitzler selbst, so ist es die überaus schmerzvolle Enttäuschung über den „Verrat“ Marie Glümers, die ihn dazu bewegt, im Umgang