Onora O'Neill

Gerechtigkeit über Grenzen


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wird nie hinübersteigen

      Und seine Kiefernzapfen fressen.1

      Sein wortkarger Nachbar ist davon nicht überzeugt:

       He only says, ‚Good fences make good neighbours.’

      Er sagt nur: „Gute Zäune, gute Nachbarn.“

      Woraufhin Frost Fragen aufwirft, die für die Diskussion über Gerechtigkeit in einer zunehmend globalisierten Welt bestimmend sind:

       Spring is the mischief in me, and I wonder

       If I could put a notion in his head:

       ‚Why do they make good neigbours? Isn’t it

       Where there are cows? But here there are no cows.

       Before I built a wall I’d ask to know

       What I was walling in or walling out,

       And to whom I was like to give offence.

       Something there is that doesn’t love a wall,

       That wants it down.’

      Der Frühling weckt den Schalk in mir, vielleicht

      setz ich ihm heut mal einen Floh ins Ohr.

      „Warum sind Zäune gut für Nachbarn? Gilt das

      nicht bloß, wo Kühe sind? Die seh ich nicht.

      Bevor ich eine Mauer baue, frag

      ich mich, was mauere ich ein, was aus,

      und wen ich etwa damit kränke.

      Da ist etwas, das mag die Mauern nicht,

      das will sie brechen.

      Sind Mauern und Zäune, Grenzen und Begrenzungen wirklich notwendig für gute Beziehungen und Gerechtigkeit? Oder zementieren sie nicht vielmehr die Ungerechtigkeit und schreiben sie fort? Was kann denn Unrechtmäßiges geschehen, wenn man sie nicht beibehält? Lässt sich dieses „Einmauern und Ausmauern“, das die Grenze zieht und fixiert, tatsächlich rechtfertigen? Sollte „der Schalk“, der Frost in Versuchung führt, eher abgelehnt oder eher begrüßt werden? Seit unvordenklicher Zeit wurden Mauern gebaut und ausgebessert, um etwas ein- oder auszuschließen: Stadtmauern, Festungsmauern, Gartenzäune und Weidezäune. Die Chinesische Mauer, der Hadrianswall, die Berliner Mauer, die Mauern um die Townships der Apartheid und die West Bank Barrier (die Mauer um das Westjordanland, wo die Ein- und Ausgegrenzten sich nicht einmal über den Namen einig sind). Alle nur zu dem einen Zweck, nämlich „ein- und auszumauern“. Aber wann und wie hat die Ausgrenzung, die sie konkret vornehmen, eine gerechtere bzw. eine ungerechtere Welt zur Folge?

       Begrenzungen und Grenzen

      Wir leben in einer Welt mit unzähligen Strukturen, die „ein- und ausmauern“, in einer Welt mit unzähligen Grenzen und ebenso unzähligen Grenzüberschreitungen. Die Linienziehungen, die wir als Grenzen bezeichnen, trennen gewöhnlich zwischen Staaten oder anderen Hoheitsbereichen. Meist handelt es sich dabei um eindeutig markierte Grenzverläufe. Andere Grenzen sind weniger greifbar. Dazu gehören die Grenzen innerhalb von Gesellschaften, Kulturen, Öko- und Wirtschaftssystemen.

      Wer diese wohldefinierten Grenzverläufe kontrolliert, versucht möglicherweise, deren Überschreitung zu regulieren: Betroffen sind davon Menschen (vor allem Fremde), Güter, Handel und Dienstleistungen, Geld und Waffen, ja selbst Ideen und Information. Üblicherweise besteht die Kontrolle in einer Überprüfung, wer und was über die Grenze darf bzw. wer und was festgehalten und am Überschreiten gehindert wird (mitunter mit durchwachsenem Erfolg). Daher ist es eine ganz wesentliche Aufgabe der politischen Philosophie, Überlegungen anzustellen, ob und wie die verschiedenen Formen von Grenzen und die Ein-bzw. Ausgrenzungen, die sie konkretisieren, gerechtfertigt werden können. Und ob bzw. wie der Rückgriff auf weniger scharf definierte Begrenzungen – nationaler und kultureller, religiöser und ideologischer Natur – zur Rechtfertigung von Staatsgrenzen herangezogen werden kann. Viele Gerechtigkeitstheorien gehen davon aus, dass ihre Prinzipien universell sind, doch damit bleibt die Reichweite der Gerechtigkeit unberücksichtigt: Prinzipien können durchaus universell sein und doch einen genau begrenzten Zweck verfolgen.

      Es ist daher nicht überraschend, dass die Frage der Staatsgrenzen wie auch anderer Grenzen für die Diskussionen über Gerechtigkeit tiefgehende und interessante Probleme aufwirft. Grenzen können dazu benutzt werden, um Gerechtigkeit – in je unterschiedlicher Auffassung – sicherzustellen, zu ändern, auszuhöhlen oder gar gänzlich zu beseitigen. Und das hat gewöhnlich nichts damit zu tun, dass ihr Verlauf strittig ist. Die tieferen Probleme haben weniger mit dem Verlauf von Grenzen zu tun als mit ihrer Konfiguration, also damit, welche Art von Handlungen sie erlauben oder unterbinden, und mit der Rechtfertigung des Ein- und Ausschlusssystems, das sie etablieren. Jede Rechtfertigung wirft Fragen auf, doch die Rechtfertigung von Ein- und Ausschlussverfahren zieht besonders schwierige Fragen nach sich: Müssen Argumente, die die Reichweite der Gerechtigkeit untermauern sollen, sowohl für die Inkludierten als auch für Exkludierten gelten? Ist es von Bedeutung, wenn Grenzziehungen für „Außenseiter“2 nicht plausibel sind?

      Ambitionierte Versionen eines moralischen Kosmopolitentums fordern, dass Staatsgrenzen durchlässiger sein sollten, offen für mehr Menschen und auch für mehr Aktivitäten. Manche malen das Bild einer stärker institutionalisierten kosmopolitischen Zukunft, in der Unterschiede nicht mehr als Rechtfertigung für Ein- oder Ausgrenzung gelten, also einer Welt weitreichender kosmopolitischer Institutionen. Doch die meisten dieser enthusiastischen Weltbürger sind gleich weniger begeistert, wenn plötzlich die Rede von einem monolithischen Weltstaat ist. Und auch sie sind sich wohl nicht sicher, ob durchlässigere Grenzen mehr oder weniger Stabilität, mehr oder weniger Sicherheit und Gerechtigkeit schaffen würden.

      Weniger ehrgeizige und scheinbar bescheidenere, realistischere Theorien globaler Gerechtigkeit gehen ganz im Gegenteil davon aus, dass zumindest einige der Grenzlinien, die durch Staatsgrenzen vorgezeichnet sind, sowie der Ein- und Ausschlussmechanismen, die sie ins Werk setzen, der Gerechtigkeit dienlich sind. Das alte Sprichwort von den guten Zäunen, die gute Nachbarschaft bedeuten, steht für ein vorsichtiges Anti-Kosmopolitentum, das manche Ausgrenzungen als hilfreich, ja notwendig erachtet, wenn Gerechtigkeit verwirklicht und bewahrt werden soll. Dabei geht es um moralischen Kosmopolitismus und um institutionellen Anti-Kosmopolitismus, die für die philosophischen und praxisorientierten Debatten über Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt Bedeutung erlangt haben. In diesem Buch will ich diesen Ansätzen nachgehen mit der Hoffnung, etwas zu den vorgebrachten Argumenten beizutragen, das diese Debatte entscheidend bereichern kann.3

       Teil I: Grenzüberschreitender Hunger

      Mit hohen Erwartungen beschloss ich Mitte der 1970er-Jahre, dass die Konzentration auf die Rechte Hungernder einen sinnvollen Ansatz darstellte, um in einer Welt, in der einige Menschen unter extremen und doch vermeidbaren Entbehrungen litten, zumindest einige der grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit herauszuarbeiten. In der Nachkriegswelt entwickelte sich die Berufung auf Rechtsansprüche – häufig, aber keineswegs immer auf die Menschenrechtskonvention von 1948 zurückgreifend – zum wichtigsten Teil des ethischen Vokabulars. Da es zu jener Zeit nur wenige philosophische Untersuchungen solcher Rechte gab, glaubte ich, dass hier gute Fortschritte zu erzielen seien.

      Ständig gab es Berichte über Hungersnöte und extreme Armut in vielen Teilen der Welt, zum Beispiel in Biafra, in Kambodscha und Äthiopien. (Nur wenige Menschen wussten Bescheid über die dramatische Hungersnot in China zwischen 1958 und 1962). Über das Bevölkerungswachstum, das nicht in den Griff zu bekommen war. Und über die Auswirkungen der Ölkrise von 1973 auf die Ärmsten der Armen. Trotz der landwirtschaftlichen Revolution gab es kaum Anzeichen für eine Bewältigung der demografischen Probleme, keine Anzeichen für ein mögliches Ende des Kalten