Elisabeth Göbel

Von Blüten und Blättern


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Knospen der Frühlingsblüher kommen aus der schwarzen Erde Angst. Vater in Russland, Vater im Krieg. Das zaghafte Blühen der Hamamelis und die staubtrüben kleinen Fenster in der Hühnerstalltür verbinden sich mit dem Verdunkelungsgebot. Ich wuchs als Kriegskind auf. Ich galt als schwieriges Kind, das man einsperrte ins Dunkle, in eine licht- und fensterlose Kammer.

      Morgen schreibe ich ein Erlebnis auf. Was ich erzählen will, wird kein Gedicht. »Gedichteschreiben ist keine Fähigkeit, die man erwirbt und die einem zur Verfügung steht, wenn man will, wenn man seinen Willen dressiert und fleißig ist. Ach nein …«, notiert Eva Strittmatter 1988 in einem Brief.

      Eine Geschichte von unserem Hühnerstall. Er ist im Sommer kitschigschön mit Rose und Passiflora berankt, doch was ich erzählen möchte, ist eine Geschichte von Dunkelheit und Angst. Und der Mehrwert im Garten – gewinnt ein Garten durch den Erwerb besonderer, womöglich exotischer Pflanzen, schwarzer Tulpen vielleicht? Gewinnt er durch Zuwendung und Pflege? Ich muss darüber nachdenken. Vielleicht ist es das Arrangement, die Gruppierung von Bäumen, Sträuchern, Blumen, was den Mehrwert erzeugt. In einer Baumschule oder einem Gartencenter gibt es die zweite Ebene der Poesie wohl kaum.

      20. Februar, Sonntag

      Der Hühnerstall, in dem schon lange keine Hühner mehr sind, wurde 1941 gebaut. Gemäß den Vorschriften der Nazizeit hatten Stallgebäude aus Holz zu sein. Andere Baumaterialien waren »kriegswichtig« und deshalb anderweitig zu verwenden. Trotz des Gebots, »aus luftschutztechnischen Gründen dunkle, gegen Fliegersicht schützende Farben« zu wählen, wurde das Häuschen in hellem Gelb gestrichen. Es gab einen Scharrraum mit Ausschlupf in den Hühnerhof, der Boden unter den Sitzstangen war aus gestampftem Lehm. Unter einer Holzbank mit aufklappbaren Sitzen hatten die Hühner ihre Gelegeplätze. Ich war Kind und sah den Hennen beim Eierlegen und beim Brüten zu. Das rote Giebeldach bot Platz für eine große Menge Heu, das durch eine Klappe in der Holzdecke zum Dachboden hinaufgeschoben wurde.

      Zehn Quadratmeter Hühnerstall und eine Bauzeichnung auf durchscheinendem Pergamentpapier, angefertigt von dem bekannten Kleinmachnower Architekten Friedrich Blume, der im Ort die Eigenherd- und die Weinbergschule baute.

      Aber es ist Sommer fünfundvierzig. Der Krieg ist aus, aber noch nicht zu Ende. Die Russen sind da, die Russen sind irgendwie überall. Sie machen Musik und schnitzen Vögel aus Holz, die sie bunt bemalen. Die Frauen haben Angst, und ich bin noch kein schwieriges Kind. Die Frauen tun sich nachts zusammen, schlafen zu viert im Ehebett, Hedwig, schon sechzehn, versteckt sich im Kinderbett und zieht sich die Decke bis über die Ohren. Immer die Angst, immer das Horchen, der angespannte Schlaf. Einmal schleppen die Frauen Decken und Matratzen auf den Heuboden überm Hühnerstall. Sie warten, bis es dunkel ist, dann tappen sie aus dem Haus, ich an der Hand meiner Mutter, gehen nicht auf dem Weg, sondern leise übers Gras, legen im Stall die Leiter an die Bodenklappe, eine nach der anderen tastet sich im Dunkeln hinauf. Aber es hat uns einer gesehen. Als die Letzte den Fuß auf die Leiter setzt, packt sie von hinten der Russe. Sie will noch hinauf und die Frauen ziehen sie hoch, halten sie fest an den Armen, den Händen, unten packt sie der fremde Soldat. Er reißt sie weg, drückt sie auf den Lehmboden. Jemand macht die Klappe zu. Jemand legt mir die Hand auf den Mund. Horchen, Atemanhalten. Durch die dünne Wolldecke sticht das Heu. Was unten geschieht, weiß ich nicht. Warten, bis der Morgen kommt.

      Vieles weiß ich nicht; ich war sechs und man sprach nicht mit den Kindern über diese und andere Dinge.

      21. Februar, Montag

      »Und mag nicht stille sein …« Der Kuckuck schrie die ganze Nacht und hört nicht auf zu schrein, dichtete Hermann Löns im Kleinen Rosengarten. Lieder der Freundinnen meiner Mutter, Lieder meiner Mädchenzeit. Jemand sang, jemand spielte Klavier. Nun bin ich neugierig und schlage noch einmal in Brehms Tierleben nach.

      Dass er »fast« Kuckuck ruft, schreibt der genaue Beobachter Alfred Brehm. Aber die erste Silbe wird schärfer ausgestoßen als die zweite, wir hören ein deutliches K und ein scharfes G – Kuguk. Das zweite gedehntere U wird durch einen G- oder K-Laut vervollständigt. Bis zu sechzig Mal sei das zu hören und es diene dazu, das Weibchen anzulocken.

      Die Liebe, so Brehm, scheine den Kuckuck geradezu um den Verstand zu bringen: Er sei buchstäblich toll, schreie unablässig so, dass die Stimme überschnappt, er durchjagt sein Gebiet und vermutet überall einen Nebenbuhler. Die Antwort des Weibchens besteht aus den äußerst rasch aufeinander folgenden Lauten »jikikickick«, die auch wie »quickwickwick« klingen, einem harten Triller ähneln und durch ein leises Knarren eingeleitet werden. Über nächtliche Aktivitäten erfahre ich nichts. Natürlich wird auch beschrieben, wie die Kuckuckin ihr Ei einem fremden Vogelpaar unterjubelt.

      Ich schätze die Fähigkeit des Naturbeschreibers Alfred Brehm, genauestens zu beobachten und die Wahrnehmungen in eine poetische Sprache zu bringen, ich bewundere seine Sätze, die präzise und literarisch sind, gründlich bis ins Detail, doch niemals langweilig – auch wenn Brehms Anthropomorphismus aus heutiger Sicht als unwissenschaftlich gilt.

      22. Februar, Dienstag

      Die roten Winterzweige des Sibirischen Hartriegels leuchten. Wie Feuer, wie Siegellack, wie Weihnachtsäpfel, wie chinesische Lackarbeit. Wie Lippenstift und Nagellack meinetwegen. Der im Sommer so unscheinbare Strauch hat am hinteren Zaun einen idealen Platz, denn die Strahlen der Nachmittagssonne finden ihn dort, und so kommt unerwartet ein Leuchten in das Winterbild.

      Im Fernsehen berichteten sie von einem Experiment, durch das untersucht werden sollte, wie uns auch alltägliche Wörter auf dem Weg übers Unbewusste beeinflussen. Zwei Gruppen von Teilnehmern hatten eine leichte Aufgabe zu bewältigen: In einfachen Sätzen mit bekannten Sprichwörtern und Redensarten war die Reihenfolge der Wörter vertauscht – also: Mund hat im Morgenstund’ Gold oder Alle Katzen nachts sind grau. Die Probanden hatten die Wörter so zu nummerieren, dass sich der korrekte Satz ergab. Danach sollten sie die Zettel mit den korrigierten Sprichwörtern in einer Box ablegen. Diese Box befand sich am Ende eines langen Ganges, und ohne dass sie es wussten, wurde gemessen, wie schnell sich jeder Teilnehmer nach Beendigung der Aufgabe von seinem Platz bis zur Box bewegte.

      Das Ergebnis lässt einen staunen. Die Testpersonen, in deren Sätzen Alltagswörter wie grau, müde, alt, schwach vorkamen, waren langsamer als die Personen der Gruppe, in deren Sätzen die »müden« Wörter fehlten. Morgenstund’ hat Gold im Mund macht, dass wir eilen. Die suggestive Kraft des Wortes funktioniert, eigentlich weiß man es lange, über unbewusste Kanäle. Wörter machen uns froh oder träge, geben Impulse oder bremsen uns. Es passiert, so die Hirnforscher, in der Amygdala, dem Mandelkern im Gehirn. Mandelkern – auch ein schönes Wort, das mich schneller laufen und schneller schreiben lässt. Ich durchsuche meine Tagebuchblätter nach müden Wörtern. Fünfmal grau bisher, zweimal trüb, einmal alt und viermal kalt. Ziemlich viel, für ein Winterprotokoll scheint es mir dennoch angemessen. Ich eile in den Garten, schneide ein paar von den leuchtroten Zweigen und stelle sie im Haus in eine Vase.

      23. Februar, Mittwoch

      Warum kein Gedicht entsteht, kommt auch daher, dass ich mich entschieden habe, ein Garten-Journal zu schreiben. Ein Tagebuch will festhalten, erinnern, informieren – so war es an dem und dem Tag. Ein Gedicht hingegen will schweben, offen sein, für Bilder, die von sonst woher kommen, aus dem »Sumpf des Unbewussten« meinetwegen, es will und muss zugleich Raum geben für die Bilder des Lesers. Ein Gedicht will den breiten Rand, das halbe Blatt in für alles empfänglichem Weiß.

      Was ich im Garten sehe und beobachte, könnte auch in die Form eines traditionellen Gedichts fließen, sich des Reims und des Metrums bedienen. Hermann Hesse schreibt in Hexametern übers Tomatenaufbinden – wunderbar. Aber das reine Naturgedicht, die Idylle in Versform geht heute nicht mehr, wirkt verstaubt und weltfremd. In Hesses Gedicht spürt man die Ironie, ergötzt einen der Kontrast zwischen dem hohen Ton der Dichtkunst und der niedrigen Tätigkeit der Tomatenpflege. Nach den zwei Weltkriegen und mit Adornos Diktum vom »Ende des Gedichts«