Uwe Westfehling

Mit den Normannen nach England


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Ethelred und sein tatkräftiger Sohn Edmund gestorben sind …

      Ein Land wird erobert, ein Herrscher geht ins Exil, ein Thron steht zwischen widerstreitenden Interessen. Nichts wirklich Ungewöhnliches im Lauf der Geschichte. Aber diesmal zündet der Funke: Es ist der Anfang einer Kette atemberaubender Ereignisse und bald geht es keineswegs nur um eine spektakuläre Militäraktion, sondern um so etwas wie die „feindliche Übernahme“ eines ganzen Staatswesens. Ein Vorgang, dessen Folgen bis heute zu spüren sind!

      Eine Zeit des Umbruchs

      Das 11. Jh. ist in der Geschichte des Abendlandes eine Zeit dramatischer Veränderungen. Es beginnt mit einem Abenteuer: dem Vorstoß europäischer Seefahrer in die „Neue Welt“ Nordamerika (um 1000). Am Ende steht die blutige Eroberung Jerusalems durch die „Glaubens-Kämpfer“ des Ersten Kreuzzugs (1099). Dazwischen liegen andere umwälzende Entwicklungen: In Spanien tritt die „Reconquista“, die Offensive christlicher Mächte gegen die islamische Herrschaft, durch das Auftreten des Nationalhelden „El Cid“ (ab etwa 1065) in eine entscheidende neue Phase. Die kirchliche Reformbewegung, die vom klösterlichen Zentrum Cluny ausgeht, greift wirkungsvoll um sich und der „Investiturstreit“, der Konflikt zwischen Papsttum und Kaisertum, erreicht in Canossa (1077) mit der Demütigung Heinrichs IV. vor Gregor VII. einen drastischen Höhepunkt. In der Schlacht von Manzikert in Anatolien (1071) erleidet das byzantinische Kaiserreich eine empfindliche Niederlage, die das Vordringen der seldschukischen Türken zur Folge hat.

      Dies ist nur eine kleine Auswahl aus einer Vielzahl markanter Ereignisse, die sich beträchtlich erweitern ließe. Und nicht zuletzt sind es die Normannen, die als „Beweger“ tiefgreifender Umwälzungen hervortreten. Eine ihrer kühnsten Unternehmungen ist ohne Zweifel 1066 die Invasion des englischen Königreichs, und die treibende Kraft dabei ist ganz entschieden Herzog Wilhelm „der Eroberer“ (Abb. 1, 2), ein Mann an dem uns manches rätselhaft bleibt …

      Vor tausend Jahren

      Rund tausend Jahre liegen zwischen uns und diesen Ereignissen. Für menschliche Verhältnisse eine ungeheure Spanne! Wie gewinnt man über so großen Abstand hinweg verlässliche Kenntnis? Nun, die „Quellen“, alle jene Auskunftsmittel von denen die Forschung ihr Faktenwissen bezieht, sind nicht spärlich. Wir kennen einiges an Äußerungen aus der Zeit selbst, schriftliche Aufzeichnungen, Dokumente und Berichte. Manches davon (wie Verträge oder Briefe) stammt unmittelbar aus dem Geschehen. Doch wie weit spiegelt es „Wahrheit“? Auch wenn die Echtheit als erwiesen gelten darf, bleibt die Aufgabe der Interpretation, wobei die Bedingungen der jeweiligen Zeit zu berücksichtigen sind und viele Stellungnahmen nur als subjektive Meinung gelten können. J. Geburt schreibt über die normannische Invasion Englands: „Die Darstellung der individuellen Charakterzüge der einzelnen historischen Persönlichkeiten war immer abhängig von Zeit, Kontext und Umständen.“1 Neben schriftlichen Quellen gibt es Bildwerke wie den berühmten Teppich von Bayeux, aber gerade der muss als besonders „tendenziös“ betrachtet werden. Bauten (Burgen, Kirchen, Häuser) und Gegenstände (Kleidung, Waffen, Werkzeug, Schiffe) können ebenfalls aufschlussreich sein, aber auch die müssen wir rekonstruieren und im Zusammenhang sehen. So ist Geschichtsforschung seit jeher mit vielen Problemen konfrontiert. Eine „ewige Baustelle“. Und sie ist keineswegs frei von Interessen, Vorurteilen und Wunsch-Projektionen. Meinungen stehen gegeneinander und manche Frage bleibt offen … vielleicht für immer.

      Dennoch aktuell …

      Trotz solcher Schwierigkeiten ist die Beschäftigung mit Geschichte unerlässlich, wenn wir für die Zukunft etwas lernen und nicht immer wieder dieselben Fehler machen wollen. Auch wenn es nicht ohne Ungewissheiten und Kontroversen verläuft. Und gerade die Invasion von 1066 bietet uns ein Abenteuer von größter Faszination. Vor allem wohl durch die unerhörte Tragweite der Vorgänge. Und dann durch die spektakulären Züge des Geschehens: Machtkampf und Herrschaftswechsel, Ehrgeiz und Treue ebenso wie Verrat und Eidbruch (tatsächlich oder behauptet?), Bruderzwist und Schlachtgetümmel, Aufbegehren und Unterdrückung, Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Tod. Ist es nicht wie ein Blick auf Shakespeares Weltbühne?

      Also machen wir uns auf: Mit den Normannen nach England!

      Abb. 2

       Wilhelm „der Eroberer“ – ein Denkmal (Falaise) und viele Fragen …

       „Inzwischen überfielen dänische Seeräuber von der Nordsee aus (…) Rouen, wüteten mit Raub, Schwert und Feuer, schickten die Stadt, die Mönche und das übrige Volk in den Tod oder in Gefangenschaft, verheerten alle Klöster sowie alle Orte am Ufer der Seine oder ließen sie, nachdem sie sich viel Geld hatten geben lassen, in Schrecken zurück.“

      „Annales Bertiani“ für das Jahr 8412

      Das Erbe der Wikinger

       Normannen, das bedeutet ja nichts anderes als „Männer aus dem Norden“. Damit ist die Herkunft aus einem Bereich angesprochen, der keineswegs eine geschlossene und klar umrissene Einheit bildet. Wir haben es mit Abkömmlingen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen aus den Ländern Skandinaviens zu tun, die gegen Ende des ersten Jahrtausends die Bühne der abendländischen Geschichte betreten, und zwar in äußerst nachdrücklicher Weise. Sie kommen vor allem als räuberische Seefahrer und werden zum Schrecken der Bevölkerung in vielen Küstengebieten.

      Die „Nordmänner“ zeigen aber auch händlerische Bestrebungen und erweisen sich überhaupt als findig und tatendurstig. Ihre kühnen Erkundungsfahrten führen über erstaunliche Entfernungen. Sie überwinden ungezählte Hindernisse und erzielen beachtliche Erfolge. Aber ihre Unternehmungen sind auch durch einen Zug rücksichtsloser Durchsetzungskraft gekennzeichnet, der es offenbar nicht selten schwierig gemacht hat, mit ihnen umzugehen. Allgemein sind diese Menschen unter dem Sammelnamen Wikinger bekannt …

      Plünderer und Händler

      „… und beschütze uns vor dem wilden Grimm der Wikinger!“ Mit dieser oder einer ähnlichen Bitte, so heißt es, habe um das Jahr 1000 mancher gläubige Christ an den Küsten Europas seine Gebete beschlossen. In der Tat droht in jener Zeit eine ständige Gefahr von den räuberischen Seefahrern aus dem Norden. Nach kleineren Vorstößen überfallen sie im Jahre 793 Lindisfarne an der englischen Ostküste, eine altehrwürdige Klostergründung, berühmt für ihre heiligen Bücher wie das kostbare, reich geschmückte Evangelienbuch aus der Zeit um 700. Dies ist der erste große Raubzug, der uns überliefert wird. Und viele weitere folgen. Die „Männer vom Meer“ gehen rücksichtslos vor: Sie tauchen überraschend auf, brandschatzen, plündern und vergewaltigen; Männer, die sich ihnen entgegenstellen, werden getötet, Frauen und Kinder verschleppt und zu Sklaven gemacht. Weder Geistliche oder Nonnen noch Gotteshäuser und Kirchenschätze werden verschont. Kirchengerät aus wertvollen Metallen und nicht selten mit Juwelen besetzt gehört sogar zur bevorzugten Beute. Die Wikinger sind keine Christen – was allerdings, wenn man die mittelalterliche Geschichte des Kriegführens und Beutemachens betrachtet, durchaus nicht immer einen Unterschied gemacht hat. Nach beendetem Raubzug kehren die Wikinger meist zu ihren heimatlichen Wohnsitzen in Dänemark, Norwegen und Schweden zurück.

      Allerdings dürfen wir uns das Bild nicht allzu simpel vorstellen. Zwar gibt es damals in Skandinavien wohl viele Kriegertrupps und kampferprobte „Banden“, die fast jedes Jahr zu solchen räuberischen Streifzügen aufbrechen, aber keineswegs alle „Nordleute“ beteiligen sich an diesen Unternehmungen, und selbstverständlich werden auch Ackerbau und Viehzucht betrieben.

      Überhaupt wäre es falsch, nur die räuberische Seite dieser Völkerstämme