heute wieder scheute er davor zurück, sich bindend auf den Tag eines Umzugs in eine bessere Gegend festzulegen, und hoffte darauf, ans Telefon gerufen zu werden. Er konnte aber schwerlich beten: «Herr, bitte lass einen Mord geschehen …» Ärzte und Hebammen hatten es in dieser Beziehung besser als er.
Nun, er wurde auf andere Weise gerettet: In diesem Augenblick betrat Pola Negri das Restaurant, und Klara war nun vollauf mit der Frage beschäftigt, ob sie es wagen konnte, die Diva um ein Autogramm zu bitten, oder nicht. Sie wusste alles über sie …
Als Barbara Apolonia Chalupiec war die Negri 1894 in Polen geboren worden und in ärmlichen Verhältnissen in Warschau aufgewachsen. Ihre Ballettausbildung hatte sie wegen einer Tuberkulose unterbrechen müssen und war zum Schauspiel gewechselt. Gerade erst siebzehn Jahre alt, wurde sie der Star des Warschauer Theaters, mit dem Ausbruch des Krieges aber war ihre Karriere schon wieder zu Ende, und ihr und ihrer Mutter ging es schlecht. Das änderte sich erst, als sie der polnische Regisseur David Ordynski für die polnische Premiere von Max Reinhardts Stück Sumurun engagierte. Es dauerte nicht mehr lange, da hatte Deutschland sie entdeckt, und Ernst Lubitsch drehte mit ihr in schneller Folge die Stummfilme Carmen, Madame Dubarry, Sumurun und Anna Boleyn.
Klara hatte keine ihrer Filme verpasst, besonders gern dachte sie an die Carmen -Premiere. Einer der Kunden des Kaufhauses Rudolph Hertzog, in dem sie seit Jahren als Verkäuferin tätig war, hatte ihr eine Karte für das Uraufführungstheater der UFA am Kurfürstendamm geschenkt. Am 17. Dezember 1918 war das gewesen, ein Tag, den sie nie vergessen würde. Im September 1919 hatte sie dann Madame Dubarry gesehen, diesmal nicht mit Harry Liedke, sondern mit Emil Jannings als Partner von Pola Negri.
Hermann Kappe ging wohl auch gern ins Theater, wenn es denn nicht zu hochgestochen war, genauso wie ins Kino. Er entwickelte dabei aber keine Art Sucht wie seine Frau.
Klara sah zu Pola Negri hinüber. Eine Schar bedeutsam aussehender Männer und stark kapriziöser Frauen umgab sie wie ein Festungswall.
«Da kann ich doch nicht so einfach hingehen und sie fragen …» Klara zögerte noch immer.
«Soll ich es für dich tun?», fragte Kappe, der wusste, dass sie sich über ein Autogramm der Negri mehr freuen würde als über eine goldene Kette.
«Das würdest du tun?»
«Ja.»
Damit stand er auf und machte sich auf den Weg zum Tisch, den die Künstlertruppe besetzt hatte. Er wusste, dass er mit einer schüchtern vorgetragenen Bitte kaum eine Chance hatte, ans Ziel zu kommen, da musste er sich schon etwas einfallen lassen. Er überlegte einen Augenblick, dann hatte er’s. Seine Kripo-Marke trug er ja bei sich. Ein Disziplinarverfahren würden die Herrschaften ja nicht gleich anstrengen wollen.
Mit ein paar Schritten stand er hinter der Gruppe, die Marke gezückt.
«Entschuldigung, meine Damen und Herren, eigentlich müsste ich Sie alle festnehmen lassen, Sie werden schon wissen, warum, aber wenn die gnädige Frau hier meiner Frau ein Autogramm gibt, kann ich’s auch vergessen …» Damit hielt er der Diva eine Speisekarte hin.
«Mach es!», rief einer, der Ernst Lubitsch hätte sein können.
«Ich habe es immer gern, wenn Frechheit siegt.»
So kam Hermann Kappe zu seinem Autogramm, merkte aber schnell, dass er damit nur ein Eigentor geschossen hatte, denn Klara wusste nun umso mehr, was sie an ihm hatte, und kam erneut auf den anstehenden Umzug zu sprechen.
«Der Krieg ist aus und vorbei.» Den hatte er immer vorgeschoben, um sich nicht auf die Wohnungssuche machen zu müssen. «Und es geht wieder aufwärts mit Deutschland, da kann man’s wagen.»
«Das Jahr ist ja noch lang», sagte Kappe. «Wir haben ja gerade erst Mitte Januar.»
«Lass uns jetzt den Tag festlegen.»
Kappe suchte Zeit zu gewinnen. «Wo willst du denn am liebsten hinziehen?»
«Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.»
«Siehste.» Er freute sich, dass das Ablenkungsmanöver so gut gelungen war. Jetzt erschien auch noch der Ober, um die Bestellung aufzunehmen. «Einen Augenblick bitte noch …»
Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment lief ein Boy durch den Raum und hielt ein Schild mit Kappes Namen hoch. Das hieß, dass er am Telefon verlangt wurde.
«Entschuldige bitte, Schatz.» Er sprang auf und eilte zum Tresen, wo ihm der Buffetier den Hörer hinhielt.
«Hier Galgenberg. Doppelmord am Tegeler Forst, Dohnensteig, det Liebespaar Numma fünf.»
Landschaft war rar geworden im großen Berlin, doch hier oben im zukünftigen Bezirk Reinickendorf gab es sie noch. Zum Beispiel den Tegeler Forst, der knapp westlich der Nordbahn seinen Anfang nahm und hinunterreichte bis nach Tegelort, dem Ende des Tegeler Sees. Doch überall wurde der Wald, wurden die einzelnen Jagen von immer neuen Siedlungen kräftig angenagt. So auch westlich von Hermsdorf beziehungsweise nördlich von Tegel, wo die Einfamilienhäuser schon die Revierförsterei erreicht hatten. Die Straßen trugen so poetische Namen wie Amselgrund, Waldfrieden oder Waldspechtweg. Der Dohnensteig, der von der Bismarckstraße abging und nach nur wenigen hundert Metern am Waldfrieden endete, grenzte unmittelbar an einen Endmoränenhügel.
«Sehr praktisch», sagte Kappe. «Wer hier oben steht, kann den Leuten direkt ins Fenster sehen. Das wird unser Täter auch getan haben - morgen früh also alles absuchen lassen!»
Galgenberg nickte. «Man kann ja nie wissen … Haste Jlück, machste dick. Wir hatten mal ’n Fall, da hat eena am Tatort kacken müssen, und der hat sich dann den Hintan mit ’ner Quittung abjewischt, wo sein Name und seine Adresse druffjestanden ham.»
Schnell hatte man herausgefunden, um wen es sich bei den Opfern handelte: um den 35-jährigen Tischlermeister Herbert Kittlitz und seine drei Jahre jüngere Verlobte Erna Reczyn, eine Kontokorrentbuchhalterin der Firma Siemens & Halske. Auch der Tatablauf war klar: Der Täter war über die Terrasse ins Haus eingedrungen und hatte das Paar im Bett überrascht.
«Dann muss alles so abgelaufen sein wie bei den vier Fällen zuvor», sagte Dr. Kniehase. «Erst erschießt er den Mann, dann vergeht er sich an der Frau, die er zum Schluss auch erschießt, um der Gefahr zu entgehen, später von ihr identifiziert zu werden.»
Dr.-Ing. Konrad Kniehase hatte als Ingenieur im kaiserlichen Heer gedient und dann lange Jahre an der Artillerie- und Ingenieurschule gelehrt, bevor man ihn gezwungen hatte, wegen einer Liebesaffäre mit der Frau eines Vorgesetzten den Militärdienst zu quittieren. Nach einigem Hin und Her war er zur Kriminalpolizei gestoßen, wo man langsam aber sicher daranging, sich bei der Aufklärung von Verbrechen auch naturwissenschaftlicher Methoden zu bedienen. Er war ein Tüftler, der mit seinen kriminaltechnischen Untersuchungsergebnissen seinen Kollegen immer wieder weiterhelfen konnte. In letzter Zeit hatte er versucht, sich auch Kenntnisse auf dem Gebiet der forensischen Medizin anzueignen.
Das Bild, das sich ihnen in dem kleinen Einfamilienhaus bot, konnte nicht anders als grausig genannt werden. Den Mann hatte die Kugel mitten in den Mund getroffen, den er wahrscheinlich zum Schrei aufgerissen hatte. Er lag inmitten einer riesigen Blutlache lang ausgestreckt auf dem Fußboden des Flures, seine Verlobte gekrümmt auf dem zerwühlten Bett, dessen Bezüge und Laken in den bizarrsten Mustern blutgetränkt waren.
Dr. Kniehase wurde später in den Zeitungen mit dem Ausspruch zitiert, ohne seine Erfahrungen an der Westfront hätte er einen solchen Anblick gar nicht ertragen können. Der Tatablauf ließ sich ohne Mühe rekonstruieren: Das Paar liegt im Bett und liebt sich, als der Täter die Tür aufreißt. Kittlitz fährt hoch, sieht ihn und stürzt ihm entgegen. Auf dem kleinen Teppich am Fußende des Bettes wird er getroffen und bricht zusammen. Der Täter schleift ihn auf die Diele hinaus und lässt ihn dort liegen. Dann kehrt er ins Schlafzimmer zurück, vergewaltigt die Frau und jagt ihr danach eine Kugel in die rechte Schläfe.
Inzwischen war auch Ernst Gennat eingetroffen, der zwar mit anderen Fällen beschäftigt war und Kappe die Federführung bei der Fahndung nach dem Nordberliner