Horst Bosetzky

Mit Feuereifer


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nicht mehr wiederholen. Dazu müsste ich zum Prozess nach Schwerin, bin aber im Augenblick unabkömmlich und schlage deshalb vor, dass Sie mich dort vertreten.»

      Das Wort Schwerin löste bei Kappe sofort positive Assoziationen aus, denn der Feldherr Christoph Graf von Schwerin, der 1757 in der Schlacht bei Prag für Friedrich den Großen den Heldentod gestorben war, stand bei ihm hoch im Kurs.

      «Schwerin», murmelte Kappe. «Ja, natürlich.» Bei Dr. Zirpins nicht auf der Abschussliste zu stehen war fast so etwas wie eine Lebensversicherung. Und der Fall Seefeldt war ja hochinteressant … Adolf Seefeldt, am 6. März 1870 in Potsdam geboren, hatte zwischen 1923 und 1935 als reisender Uhrmacher - daher sein Spitzname Onkel Ticktack - mindestens zwölf, möglicherweise aber über hundert Jungen umgebracht, alle mit einem Matrosenanzug bekleidet. Dass eine solche Mordserie in NS-Deutschland möglich war, musste den Machthabern mehr als peinlich sein, und man kam bei der Kripo nicht umhin, über neue Arbeitsweisen nachzudenken.

      Als Kappe vierzehn Tage später in Schwerin ankam, staunte er nicht schlecht. Er hatte eine verschlafene Residenzstadt erwartet, und nun war bei seiner Ankunft mehr Betrieb als in Berlin. Der Bahnhof hatte nur ein paar Gleise, dennoch war es hier voller als auf dem Anhalter oder dem Stettiner Bahnhof. Erst als er die vielen Hakenkreuzfahnen erblickte, die in langen Bahnen an den Fassaden hingen, fiel ihm ein, warum das so war: Heute wurde Wilhelm Gustloff beigesetzt, und der Führer war im Anmarsch, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. In seiner Heimatstadt Schwerin, wo er 1895 zur Welt gekommen war, wollte man Wilhelm Gustloff ein Denkmal errichten und das größte KdF-Passagierschiff, das gerade gebaut wurde, sollte nicht nach Adolf Hitler, sondern nach ihm benannt werden.

      Gustloff, gelernter Bankkaufmann, war wegen eines chronischen Lungenleidens nicht eingezogen worden und 1917 nach Davos gegangen, um sich dort auszukurieren. In der Schweiz geblieben, war er 1929 der NSDAP beigetreten und 1932 Landesgruppenleiter der Auslandsorganisation geworden. In dieser Funktion hatte er antisemitische Hetzschriften verbreitet und fünftausend Auslandsdeutsche für die NSDAP gewonnen. Am 4. Februar 1936 war er in seiner Davoser Wohnung von dem Medizinstudenten David Frankfurter, dem Sohn eines Rabbiners, erschossen und von den Nationalsozialisten als «Blutzeuge der Bewegung» zum Helden gemacht worden. Nun war der Sarg mit einem Sonderzug in Schwerin angekommen, und 35 000 Menschen standen Spalier.

      Kappe grauste es vor diesem Trauerspektakel. Er quetschte sich durch die Menge, um schnell in sein Hotel zu kommen, das in der Nähe der St.-Anna-Kirche gelegen war.

      Als er am nächsten Morgen zum Landgericht eilte, stieß er auf dem Demmlerplatz mit Karl-Heinz Wanzka zusammen, einem windigen Burschen aus Berlin, der sich als Einbrecher, Hehler und Erpresser einen Namen gemacht hatte, aber immer mit milden Strafen rechnen konnte, weil er für die Polizei als V-Mann unentbehrlich war. Zwar suggerierte die gleichgeschaltete Presse den Deutschen, dass im NS-Staat alle individuelle Kriminalität nahezu ausgerottet sei, doch gab es immer noch eine erhebliche Anzahl schwerer Eigentums- und Rohheitsdelikte, und das Berufsverbrechertum war längst nicht zerschlagen. Die alten Ringvereine bestanden im Geheimen weiter, und Zuhälter und Prostituierte dominierten wie früher bestimmte Lokale und Straßenstriche in Kreuzberg und Friedrichshain. Selbst Erich Liebermann von Sonnenberg, seit 1936 Chef der Berliner Kriminalpolizei, musste eine gewisse Machtlosigkeit einräumen: «An der Front fühlt man schon, dass der Schock, den der scharfe Zugriff der nationalsozialistischen Polizei dem gesamten Verbrechertum beigebracht hat, an Wirkung zu verlieren beginnt.»

      Vor diesem Hintergrund musste Kappe zu einem Mann wie Wanzka, den er eigentlich nur eklig fand, scheißfreundlich sein.

      «Was machen Sie denn hier in Schwerin?», fragte er, während sie sich die Hände schüttelten. «Ein Verwandtenbesuch?»

      Wanzka grinste. «Nee, und ick verbitte mir diese Beleidigung!»

      «Ah, haben Sie hier wieder eine Stelle als Kellner gefunden?»

      «Auch nicht.» Wanzka nahm Haltung an. «Ich bin amtlich geladener Zeuge im Prozess gegen Onkel Ticktack.»

      Kappe staunte. «Sie kennen Adolf Seefeldt?»

      «Ja, er hat sich auch mal an mich rangemacht, als ich noch ein Junge war, aber ich bin ihm nicht auf den Leim gegangen.»

      Jetzt begriff Kappe die Zusammenhänge. Es war bekannt, dass Wanzka der Berliner Schwulenszene angehörte und auch Seefeldt Homosexueller war.

      Sie plauderten noch ein wenig, dann trennten sich ihre Wege. Wanzka hatte sich bei einem Justizwachtmeister zu melden, Kappe orientierte sich in Richtung Sitzungssaal.

      «Bis bald einmal», sagte Kappe.

      Wanzka grinste. «Nee, Herr Kommissar, wenn ick ooch ’n Aas bin, ’n Mörder bin ick nich.»

      DER STARTER hob seine Pistole und wartete, bis die Läufer an die weiße Linie getreten waren, die sich in sanfter Krümmung von der Innenzur Außenbahn zog. «Auf die Plätze …» Wo ihre Spikes in die hart gewordene Kruste der Aschenbahn drangen, stiegen kleine Staubwölkchen auf. «Fertig …»

      Martin Kammholz hatte Mühe sich zurückzuhalten, das Zucken seiner Muskeln ließ sich kaum noch unterdrücken. Der Startschuss war eine Erlösung und nur vergleichbar mit dem Höhepunkt beim Beischlaf. Nein, der Vergleich war falsch, denn nun folgte keine Phase der Erholung, sondern eine der höchsten Anstrengung. Eine Neugeburt war es nicht, aber eine Metamorphose: Hatte er sich eben noch wie ein müder, alter Mann gefühlt, so war er jetzt ein junger Gott, der dahinflog wie eine Gazelle und dabei war, die Schwerkraft aufzuheben.

      Laufen war Leben, nur wenn er lief, dann lebte er wirklich. Der Mensch war ein Lauftier, Laufen war etwas Archaisches. Wer schneller lief, hatte größere Chancen zu überleben, er konnte seinen Feinden wie seinen Beutetieren besser folgen, um sie zu erlegen, ihnen aber auch eher entkommen, wenn sie stärker waren als er.

      Martin Kammholz wäre auch gelaufen, wenn es keinen Wettkampf gegeben hätte, wie seine Urahnen ja auch über die Savannen gelaufen waren, ohne dass es um Meisterehren und goldene Medaillen gegangen wäre. Aber ein Sieg überhöhte alles noch, und es gab keinen stärkeren Rausch als das Wissen, der Beste zu sein: die Nummer eins in der Region, im Land, in Europa und schließlich in der ganzen Welt. Dafür trainierte er seit zehn Jahren, und wäre ein Samiel gekommen, dann hätte er ihm, ohne zu zögern, seine Seele verkauft, wenn er dafür Olympiasieger geworden wäre. Er sah die Schlagzeilen vor sich: Martin Kammholz, der Telegraphenbauhandwerker aus Berlin, erringt die Goldmedaille im 1500-Meter-Lauf.

      Doch das war nur zu schaffen, wenn er bis dahin keinem Wettkampf aus dem Wege ging, denn nur im Ringen mit den anderen gewann man die nötige Härte, um gegen die Großen der Zunft eine Chance zu haben, mit dem Training allein war es nicht getan. Und so war er nach Köln gefahren, wo bei einem Sportfest einige Männer am Start waren, denen man zutrauen konnte, die 1500 Meter unter vier Minuten zu laufen. Diese Zeit hatte lange als Schallmauer gegolten, und selbst der große Otto Peltzer war nie mit einer Zeit unter vier Minuten Deutscher Meister geworden. Martin Kammholz hatte eine Bestzeit von 3 Minuten 56,9 Sekunden, und im Deutschen Reich waren nur wenige schneller als er. Der Rekord, gehalten von Otto Peltzer, stand im Augenblick bei 3 Minuten 51,0 Sekunden, er stammte schon aus dem Jahre 1926. Den zu knacken war ein weiterer Traum.

      Auf den ersten vierhundert Metern ließ es Kammholz ruhig angehen, denn er liebte es, den Pulk der Läufer vor sich zu haben. Alle waren rank und schlank und hatten den leptosomen Körperbau, den er so liebte. Lief er schräg nach außen versetzt, konnte er am besten verfolgen, wie sich die durchtrainierten Oberschenkel hoben und senkten und sich die Hosen über ihnen derart spannten, dass der Stoff zu zerreißen drohte.

      Nach etwa achthundert Metern verschärfte er das Tempo und genoss es, das Feld von hinten aufzurollen. In der Mitte angekommen, bremste er aber wieder ab, um andere passieren zu lassen. Bald war er eingeschlossen, roch den Schweiß der anderen, berührte ihre Arme, streifte ihre Körper, hörte ihren Atem, spürte ihre Kraft, die ihn in pulsierenden Wellen erreichte. Er fühlte sich wie ein Büffel inmitten einer Herde, die mit Urgewalt über weites Grasland fegte.

      Eine besondere Lust war es, an der Spitze zu