Horst Bosetzky

Mit Feuereifer


Скачать книгу

auf dem Tisch stand. Heute waren Rouladen an der Reihe, und Kappe freute sich schon auf den Kampf mit dem Bindfaden, denn Klara weigerte sich strikt, metallene Spieße zu benutzen, weil die ihrer Meinung nach den Geschmack des Fleisches verdarben.

      «Zu Tisch, bitte!», hörte es Kappe aus der Küche rufen. Seufzend legte er seinen Band über die Germanen aus der Hand. Gern hätte er noch ein Weilchen gelesen.

      Seine Familie saß schon am runden Esstisch. Immer, wenn er seine Lieben ansah, war Kappe verwundert: Wie alt Klara inzwischen geworden war, und wie groß, beinahe erwachsen der erstgeborene Sohn und die Tochter waren!

      Margarete war gerade dabei, ihre Lehre als Schneiderin zu Ende zu bringen. Hartmut ging noch zur Schule und sollte, getrieben vom Ehrgeiz seiner Mutter, 1939 das Abitur machen. Hoffentlich noch vor Kriegsbeginn, dachte Kappe, denn dass es Krieg geben würde, glaubten sowohl seine Freunde, die Hitlergegner waren, als auch seine Kollegen, die auf Adolf Hitler schworen. «Wartet erst einmal ab, bis die Olympischen Spiele vorbei sind», hieß es überall, so lange tue der Führer so, als habe er Kreide gefressen. Karl-Heinz, der Nachkömmling, war nun auch schon neun Jahre alt und ein kräftiger Kerl.

      «Ich wünsche allen einen gesegneten Appetit», sagte Klara, und alle reichten sich die Hände, um damit ihren Zusammenhalt als Familie unter Beweis zu stellen.

      «Danke.» Kappe grauste es vor der ewigen Tomatensuppe, aber was blieb ihm übrig, als seine Frau für ihre Arbeit und ihre Kochkunst zu loben.

      Hartmut, der viel von seiner Mutter und wenig von seinem Vater hatte, schwärmte wieder einmal vom Boxkampf Joe Louis gegen Max Schmeling, den der Deutsche in der zwölften Runde durch K. o. gewonnen hatte. «Schmelings Rechte war phantastisch! Er hat sich Filme mit Joe Louis angesehen und genau gewusst, wo der Neger seine Schwachstelle hat: dass er seine Linke, nachdem er geschlagen hat, zu tief sinken lässt und die linke Schläfe nicht richtig gedeckt ist.» Dann wiederholte er die Worte des Reichsrundfunkreporters: «Aus dem gefürchteten Braunen Bomber ist ein armer kleiner Negerboy geworden.»

      Kappe musterte seinen Sohn vorsichtig von der Seite. Hartmut war nicht nur «sein eigen Fleisch und Blut», wie es immer hieß, der «Stammhalter», den er liebte, sondern auch ein überzeugter HJ-Junge, der den Eid abgelegt hatte: «Ich verspreche, in der Hitler-Jugend allzeit meine Pflicht zu tun in Liebe und Treue zum Führer und unserer Fahne.»

      Noch schlimmer stand es mit Margarete, die bei einer Freundin einen Vorabdruck von Elvira Bauers Kinderbuch Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid! gefunden und sich ausgeborgt hatte und ihrem Bruder Karl-Heinz nun ohne jegliches Störgefühl zwei Zeilen daraus vorlas: « Nun wird es in der Schule schön, / denn alle Juden müssen gehen, / die Großen und die Kleinen. / Da hilft kein Schrein und Weinen / und auch kein Zorn und Wut. / Fort mit der Judenbrut!»

      Klara nickte dazu und meinte, bei den Olympischen Spielen würde es ganz schlimm werden. «Da wird es ja nur so wimmeln von Juden und Negern. Über die hundert Meter soll ein Neger allen voran sein, und bei den Fechtern wollen sie die Jüdin Helene Mayer aus Amerika zurückholen, damit sie für Deutschland eine Goldmedaille gewinnt. Aber der Führer wird schon wissen, was er tut.» Kappe fühlte sich furchtbar allein. Seine Frau verehrte Adolf Hitler, und die Kinder schwammen mit im breiten Strom, ohne sich groß Gedanken zu machen. Sagte er etwas Kritisches über die Nationalsozialisten, fielen sie alle über ihn her. Die Kraft, es mit Klara, Margarete und Hartmut aufzunehmen und sie umzupolen, hatte er nicht, er konnte froh sein, dass sie ihn nicht beschimpften, weil er kein Mitglied von SA und NSDAP geworden war.

      Fast war er froh, als das Telefon klingelte, kaum dass er die Hälfte seiner Rouladen aufgegessen hatte.

      Es war der Alexanderplatz. Man würde ihn gleich abholen, in der Nähe der Stößenseebrücke habe man einen Toten gefunden.

      «Eingeschlagener Schädel, ganz sicher Fremdverschulden.»

      Hermann Kappe glaubte nicht so recht daran, dass Gott für jeden Menschen bei dessen Geburt schon ein Drehbuch geschrieben hatte, in dem für das ganze Leben all seine Rollen und Auftritte festgelegt waren, auch wenn seine Großmutter in Wendisch Rietz immer gesagt hatte: «Man kann sich drehen und wenden, wie man will, der Allerwerteste bleibt immer hinter.» Lieber war ihm der Spruch: «Der Zufall macht vor keinem halt.»

      Es begann damit, dass im Mordauto, das ihn von zu Hause abholte, nicht sein alter Weggefährte Gustav Galgenberg saß, den ein Hexenschuss außer Gefecht gesetzt hatte, sondern Werner Deterding, ein Neuzugang aus Bremen, der überall als «komisch» galt. Das lag daran, dass er an einer leichteren Form des Tourette-Syndroms erkrankt war, das heißt den Tick hatte, unaufhörlich mit den Fingern trommeln zu müssen. Seine Hände explodierten förmlich, und er tat so, als sei sein Schreibtisch ein Klavier oder eine Trommel. Auf diese Weise hatte er sich weitgehend unter Kontrolle und nutzte seine Erkrankung auch, um Musik zu machen. Vor der Machtergreifung hatte er als Schlagzeuger in Jazzkapellen gespielt, nun war er Trommler bei der SA. Dennoch hätten ihn die Nationalsozialisten eingesperrt und möglicherweise sterilisiert, wenn sein Vater nicht leitender Ingenieur bei der Weser-Flugzeugbau GmbH, kurz Weserflug, gewesen wäre, also ein bedeutsamer Mann für den Aufbau der Luftwaffe, und Hermann Göring zu seinen Freunden zählte. 1934 hatte die Weserflug die Rohrbach Metallflugzeugbau GmbH in Berlin übernommen, und Dr. Ing. Robert Deterding war gezwungen gewesen, sich hier eine Zweitwohnung einzurichten. Um nicht ganz allein zu sein, hatte er seinen Sohn mitgenommen und seine Kontakte genutzt, um ihn bei der Berliner Polizei unterzubringen.

      «Wenn wir schon unseren VTOL hätten, wären wir nach ein paar Minuten am Ziel», erklärte Deterding Kappe, kaum dass der ins Mordauto gestiegen war und im Fond Platz genommen hatte.

      «VTOL?», fragte Kappe und versuchte gleich selbst eine Deutung. «Vereinigte Teilnehmerschaft Olympische Spiele?»

      «Nein. Vertical Take Off and Landing.» Deterding klopfte die einzelnen Silben auf die Rückseite des Fahrersitzes. «Das ist ein Drehflügler oder eine Art Hubschrauber, ganz wie Sie wollen. Adolf Rohrbach entwickelt ihn mit Heinrich Focke zusammen.»

      «Mit uns zieht die neue Zeit», sang Kappe - und erschrak zugleich, denn das hatte die SPD immer bei ihren Tagungen gesungen.

      Deterding lachte und trommelte ein Solo. «Keine Angst, das stammt von Hermann Claudius, und der ist jetzt ein glühender Anhänger Adolf Hitlers. Sein Eutiner Dichterkreis schreibt ständig Ergebenheitsadressen nach Berlin.»

      Kappe wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Konnte sich Deterding aufgrund der Stellung seines Vaters solche despektierlichen Bemerkungen erlauben - oder war er ein Agent provocateur, den die Gestapo in die Kripo eingeschleust hatte, um unsichere Kantonisten zu ermitteln? Zunächst jedenfalls war Vorsicht angebracht, hieß es doch jetzt bei den alten SPD-Genossen: «Vertraue keinem, den du nicht mindestens ein Jahr lang kennst!» Also zog sich Kappe auf sicheres Terrain zurück: den Fußball. «Was meinen Sie, wer steht diesmal im Finale um den Deutschen Meistertitel?»

      Deterding überlegte. An diesem Sonntag fanden die beiden Halbfinalspiele statt. In der Adolf-Hitler-Kampfbahn standen sich der 1. FC Nürnberg und Schalke 04 gegenüber, und Am Ostragehege in Dresden traf Fortuna Düsseldorf auf Vorwärts Rasensport Gleiwitz. «Ich tippe mal auf Nürnberg gegen Düsseldorf.»

      «Ich auch. Haben Sie denn Karten für das Endspiel?» Das sollte am 21. Juni im Berliner Poststadion stattfinden. «Da wär ich ja gerne dabei - wenn wir nicht wieder ’n Ermordeten haben sollten.»

      «Gut, ich werde mich in vierzehn Tagen zurückhalten.» Deterding überlegte. «Karten, ja … Ich werde mal meinen Vater ansprechen, das müsste klappen.»

      Wie immer kam Kappe die Heerstraße endlos lang vor, und langweilig war sie allemal. Wenn ihnen nicht ab und an auf dem nördlichen Seitenstreifen Straßenbahnzüge entgegengekommen wären, hätte es überhaupt nichts zu sehen gegeben. Das änderte sich erst, als sie die Reichssportfeldstraße erreicht hatten und weit hinten das steinerne Oval des Olympiastadions liegen sahen.

      «Noch zwei Monate, dann wird dort der Teufel los sein», prophezeite Kappe.

      «Vorsicht!», zischte Deterding.

      «Wieso