Reinhard Kessler

Wellenwasser


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man heute so sagt, auf Augenhöhe statt, und das, obwohl sie nicht gleich gross sind.

      Und wie zu erwarten wurde das gegenseitige Gefrotzele von früher nahtlos wieder aufgenommen, so als wäre die Zeit stehen geblieben.

      „Na, schwarzer Mann, du willst wohl hier ein paar Tricks lernen, damit sie dich nicht erwischen, alter Gauner, häh?”

      „Und du, weisser Mann, glaubst du im Ernst, dass du in deinem Alter noch was dazulernen kannst?”

      „Ha, ich habe schon viel gelernt. Zum Beispiel die Bestimmung des Todeszeitpunktes von Mordopfern am Schmatzgeräusch der Maden.”

      „Habe ich auch gehört. Manche Themen sind originell seltsam oder seltsam originell, wie man will.”

      „Erinnert mich an eine andere Arbeit, da haben wir schon als Schüler darüber gelacht: Der Sauerstoffverbrauch des Maikäfers im Rückenflug.”

      „Schutz des Grashalmes vor dem Sensenschnitt.”

      „Ja, ja. Kenne ich. Einfluss des Blitzschlages auf das Wachstum der Eiche und so.”

      „Alles ganz wichtige Beiträge.”

      „Das beste, was ich bei Doktorarbeiten bis jetzt gelesen habe, das war bei einem Mediziner. Thema: Untersuchungen zur optimalen Lochgrösse in Salzstreuern.”

      „Häh?”

      „Ja. Die Mediziner sind doch der Meinung, dass zuviel Salz gesundheitsschädlich ist. Bluthochdruck und so. Und da hat einer untersucht, wie sich der Salzverbrauch in der Kantine über die Lochgrösse von Salzstreuern steuern lässt.”

      „Und was hat Schweinchen Schlau rausgefunden?”

      „Ist das Loch zu gross, kommt zuviel Salz.”

      „Nein.” „Doch.” „Ohh!”

      „Warte, es kommt noch besser. Ist das Loch zu klein, dann ist das noch schlechter.”

      „Wieso das denn?”

      „Weil die Gäste es dann mit der Gabel grösser bohren und es kommt noch mehr Salz.”

      „Nein.” „Doch.” „Ooohh!”

      „Warte, ich bin noch nicht fertig. Er hat schlussendlich auch noch rausgefunden, wie der Salzverbrauch in der Kantine am effizientesten zu senken ist.”

      „Wie?”

      „Der Salzverbrauch ist am niedrigsten, wenn keine Salzstreuer auf dem Tisch stehen.”

      „Nein.” „Doch.”

      „Bo eye! Das ist jetzt aber nicht wahr! Diese Bildungsbestie!”

      „Das ist eben die geistige Elite hierzulande, da können wir einfach strukturierten Leute abstinken.”

      „Sicher summa cum laude.” „Mindestens!”

      „Nobelpreiskandidat.”

      „Sooo schlau. Dem platzt bestimmt mal der Kopf.”

      „Nur so kommt die Menschheit voran, glaub mir’s.”

      So ging das damals auf dem Kongress eine Stunde lang und jeder erzählte dann auch, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen war. Jelato war bei der schweizer Polizei gelandet und fühlte sich dort als Kommissar auch wohl. Gerome war ebenfalls bei der Kripo, irgendwo im grossen Kanton, wie man in der Schweiz zu Deutschland sagt, im Norden. Gerome hatte schon länger die deutsche Staatsbürgerschaft, er war sogar auch irgendwie Doppelbürger, scheinbar geht das, sonst hätte das ja mit dem Beruf nicht geklappt.

      Das war also Gerome, diese Begegnung auf dem Kongress war schon Jahre her und nun trafen sie sich also zufällig in Wismar wieder …

      … heute:

      Ihr Zusammentreffen hier stand aber zu Beginn unter keinem guten Stern. Das hätte leicht auch anders ausgehen können.

      Jelato kam gerade vom Frisör, den er selbstverständlich nach schweizer Art Coiffeur nannte, und suchte eine Buchhandlung, irgend sowas wie eine Papeterie mit Büchern und Landkarten und Reiseführern.

      Gerome hatte Jelato in der Stadt vor sich von weitem erkannt und wollte ihn einholen. Er folgte ihm mit schnellem Schritt, und als er auf ungefähr 30 Meter heran war, da sah er mit kriminalistisch geschultem Blick für sich anbahnende Gefahren, wie vier Jugendliche Jelato entgegenkamen und ihm auf dem Bürgersteig keinen Platz liessen.

      Gerome sah also, wie Jelato und die vier Kapuzengestalten aufeinander zu gingen.

      Gefährlich sah das aus.

      Spannend.

      Eigentlich eine coole Western-Szene. Django beim Duell. Wer zieht schneller? Show-down in Wismar.

      Aber es war kein Spiel, sondern Wirklichkeit.

      Da wurde kein Platz gemacht für Jelato. Das könnte schnell bitterer Ernst werden. Gerome wollte schon hinlaufen, um Jelato bei der drohenden Auseinandersetzung zu helfen. ‘Das wird eskalieren, das ist doch vorprogrammiert, da läuft eine Provokation’, dachte er. Vier gegen einen, da müsste er eingreifen.

      Sein Adrenalinspiegel stieg. Er war körperlich bereit, die Muskeln waren angespannt, die Sinne geschärft. Er beobachtete gespannt jede Bewegung.

      Aber dann sah er seinen alten Freund Jelato, wie der einfach durch ging durch die vier Kapuzen-Träger, einfach durch die Mitte, als wäre das gar nichts, und links und rechts flog so ein Kerl etwas unsanft zur Seite. Die stürzten nicht, aber der Rempler machte Jelato den Weg frei.

      Danach geschah etwas, was wohl keiner erwartet hätte. Die zwei so hart zur Seite Gestossenen murmelten sowas wie „Entschuldigung” und alle gingen weiter. Kein Streit, kein Gezänk, nichts.

      Gerome war inzwischen bei Jelato und begrüsste ihn. „Na, weisser Mann, immer noch der Alte, was?”

      „Hey, Gerome, du Sohn der Dunkelheit, was treibst du denn hier? Mensch, so eine Überraschung. Wielange haben wir uns nicht gesehen? Wo kommst du denn her?”

      Gerome antwortete nicht, sondern fragte: „Was war das denn eben?”

      „Die Vier wollten keinen Platz machen für einen alten Mann.”

      „Die haben wohl nicht gewusst, dass du früher Handball gespielt hast.”

      „Genau. Durch die Abwehrreihe des Gegners durch ist ohne Ball viel leichter als mit Ball.”

      „Ich hätte trotzdem Stürmerfoul gepfiffen.”

      „Du meinst übertriebener Körpereinsatz?”

      „Na ja, die haben sicher was gelernt.”

      „Hoffentlich. Ist doch wahr, die hätten mir doch auch eine kleine Lücke lassen können.”

      „Schon. Hattest du einen Plan B? Es waren immerhin vier und es hätte auch anders ausgehen können. Und der Jüngste bist du auch nicht mehr.”

      „Doch, doch, einen Plan B habe ich immer. Ich bin zwar schon älter, aber ich kann noch ganz gut wegrennen.”

      Sie lachten und sprachen noch eine ganze Weile miteinander. Leider war ihre Zeit knapp. Jeder hatte noch was zu erledigen in der Stadt.

      Aber bei so einem zufälligen Treffen konnte es doch nicht bleiben! Nicht bei diesen beiden, nicht nach so langer Zeit!

      Sie verabredeten sich daher auf den nächsten Tag im Hafen, ist doch klar, wenn man sich solange nicht gesehen hat, vielleicht Stadtrundgang, vielleicht Kaffee trinken, vielleicht was ganz anderes, es würde ihnen sicher was einfallen, auf jeden Fall, wir kennen es: alte Zeiten aufwärmen.

      Alte Zeiten aufzuwärmen scheint ein menschliches Grundbedürfnis zu sein. Übrigens auch von denen, die sich früher über ihren Opa nervten, weil der immer vom Krieg erzählt hat.

      Nachdem die diversen Vorhaben wie Ferienliteratur und Stadtführer inclusive Stadtplan erledigt waren, traf sich Jelato wie