noch ein Ball da und somit ging das Spiel weiter. Inzwischen war Halbzeit und diese Pause nutzte der Trainer von Rotation Freiberg, um die Gegner von Hainichen zu bitten, sich etwas in der Höhe zurückzunehmen, wenn sie in der zweiten Halbzeit auf das Tor, hinter dem sich Schnatterers Grundstück befindet, schießen. Es wurde auch erläutert, weshalb – die anderen hatten das Problem schon längst erkannt. Es lief auch alles einigermaßen gut bis zehn Minuten vor Schluss. Es war wieder mal einer von den Wilden, die nie so recht hören können. Auf jeden Fall knallte der Ball in großer Höhe durch das Netz und an das Haus von Schnatterer (Glas splitterte allerdings nicht). Es passierte sinngemäß das Gleiche wie vorhin, nur dass er diesmal nicht wie ein Sprachrohr agierte. Er meckerte stark, nahm den Ball und verschwand im Schuppen. Nun war aber ein großes Problem gegeben, denn es war schlicht und einfach kein Ball mehr vorhanden. Alle schauten sich ratlos und entrüstet an. Der Trainer reagierte als Erster. „So geht das einfach hier nicht weiter! Jedes Mal haben wir das gleiche Problem und wir haben in dieser Zeit, wo es nichts gibt, einfach keine Fußbälle mehr. Hier muss das Bezirksamt eine Regelung treffen und jetzt gehen wir alle geschlossen zu diesem bösartigen Sportgegner. Ich muss aber bitten, nicht handgreiflich zu werden, denn das verschlechtert nur unsere Lage.“ Nach fünf Minuten kamen die abgekämpften Spieler mit Trainer bei Herrn Schnatterer an. Günther und ich, die neugierig hinterherliefen, haben heute noch das Geräusch, was die Fußballstollen auf dem erdigen Weg verursachten, im Gedächtnis. Es klang fast so, als wenn eine Kompanie Soldaten marschiert. Die Gespräche während des Soldatenmarsches verliefen folgendermaßen: „Der hat uns jetzt sofort die Bälle herauszugeben, sonst kriegt der eins in die Fresse. Wir wollen doch keinen Spielabbruch, noch dazu, wo wir 1 : 0 führen. Der muss einmal Angst vor uns bekommen und so sollten wir auch auftreten.“ Der Trainer klingelte – es dauerte vielleicht geschlagene fünf Minuten, bis Schnatterer sich endlich bequemte. Inzwischen kam auch der Schiedsrichter den Berg hochgelaufen und rief schon von Ferne: „Was wird denn nun? Das Spiel muss weitergehen! Das ist ja ein Skandal!“ Als Schnatterer herauskam, ging sofort der Schorsch Mächtig (so war der auch in der Realität, ein Meter und neunzig groß und wahnsinnig kräftig) auf ihn zu, stellte sich provozierend vor ihn und sagte: „Geben Sie uns sofort die Bälle heraus – ich will sehen, wo sie liegen. Die sind unser Eigentum. Und wenn Sie das nicht tun, zwinge ich Sie dazu und werde Sie altes, kleines Männlein vor mir her treiben!“ Der Trainer kam sofort angeflitzt, stellte sich zwischen Mächtig und Schnatterer. „So auf keinen Fall. Wir wollen vernünftig mit Ihnen reden, Herr Schnatterer. Ich rate Ihnen aber auch, uns sofort dorthin zu führen, wo die Bälle liegen. Handeln Sie bitte auf der Stelle!“ Das Letzte hatte der Trainer so markant und mit Nachdruck gesagt, dass Schnatterer unsicher wurde. „Kommen Sie!“ Er führte alle weiter nach hinten, machte die Schuppentür auf und da sahen alle das Ärgernis. An der Seite hing ein riesengroßes Netz mit vielleicht zwanzig Bällen darin. Die Spieler, der Trainer und der Schiedsrichter sperrten Mund und Nasen auf, als sie das sahen. Nachdem das Erstaunen gewichen war, brachen in den Sportlern alle Zurückhaltungsdämme. Alle schrien: „So ein Schuft – der Verbrecher hindert uns am Ausüben unseres geliebten Fußballspiels. Der muss sofort alle Bälle hergeben und sich entschuldigen.“ Einer, es war nicht der Mächtig, stürzte auf Schnatterer zu, fasste ihn derb am Oberarm, zerrte mit einer Wahnsinnskraft daran und forderte: „Her mit den Bällen, sonst wirst du jetzt schon und sofort erledigt, du alter verhärteter Knochen!“ Herr Schnatterer fiel hin und schaute – für mich war es das erste Mal – verängstigt in die Welt. Der Trainer und der Schiedsrichter kamen an, halfen Herrn Schnatterer hoch. „Herr Schnatterer, das wollen wir nicht! Entschuldigung! Wir sollten uns jetzt hier und sofort, damit so etwas nie wieder vorkommt, vernünftig wie Erwachsene unterhalten und eine Regelung treffen, damit für immer Ruhe wird!“ Der Trainer rannte noch schnell zu dem Oberarmzieher hin und stellte sich zackig vor ihm auf. „Ralf, noch einmal so eine verbotene Aktion und ich stelle dich nie wieder auf! Überlege es dir!“
„Herr Schnatterer, der Sportverein repariert das Fensterglas, Sie geben uns jetzt alle Bälle zurück und wir werden uns in Zukunft bemühen, nicht mehr durch das Schutznetz zu schießen! Einverstanden?“ Schnatterer schaute, für seine Verhältnisse, relativ ruhig. „Ich bin einverstanden, viele denken – und so wird ja fast schon im gesamten Dorf über mich geredet –, dass ich ein Stänkerer und Streitkopf wäre. Dem ist aber nicht so. Ich will auch einmal meine innere Ruhe haben. Mir ist nach alldem Hin und Her und dem Geschreie immer ganz schlecht. Allerdings muss ich verlangen, dass nicht mehr durch das Schutznetz geschossen wird!“ Jetzt schaltete sich allein der Schiedsrichter ein. „Ich schlage vor, dass das Netz unter Zuhilfenahme der Fußballspieler durch eine Firma dicht gemacht wird, so dass das Durchschießen in Zukunft ausgeschlossen wird.“ Jetzt schaute selbst Herr Schnatterer ziemlich ruhig und offensichtlich zufrieden. Mir schien es, als wenn er sogar ein ganz klein wenig lächelte. „Hier meine Hand darauf – so kann endlich Eintracht werden!“
Für mich war das Leben in der neuen Wohnung natürlich eine riesige Veränderung. Mir fehlten Lothar, Helga und meine Kumpels vom Unterdorf. Mutti ging immer früh 7 : 00 Uhr ins Gemeindeamt und kam, wenn sie nicht wieder einmal Überstunden machte, gegen 17 : 00 Uhr zurück. Vater fuhr noch früher als sie mit seiner ILO los. Urplötzlich war ich allein gelassen, bekam einen Haustür- und Wohnungsschlüssel. Das war’s dann! Ich hatte ja aber genug mit der Schule zu tun, die mich mehr, als mir lieb war, mit Unterricht und Hausaufgaben zudeckte. Der Unterricht begann im Allgemeinen 7 : 30 Uhr und endete gegen Mittag. Mit meinen Kumpels, vor allem mit meinem neuen Freund Klose, Günther gingen wir dann nach der Büffelei nach Hause. „Ich stelle nur meinen Ranzen zu Hause ab, esse etwas – mal sehen, was mir Mutti hingestellt hat – in zirka einer halben Stunde, Günther, bin ich wieder draußen und wir können etwas unternehmen!“ Günther schaute mich etwas missbilligend und leicht überheblich an. „Zunächst mache ich Hausaufgaben und erst danach gehe ich raus! Hast du nicht mitbekommen, dass wir in Deutsch den einen Textteil von Heinrich Manns Buch abschreiben und kommentieren sollen und in Mathe haben wir auch drei Aufgaben.“
„Das können wir doch später machen, Günther! Hab dich mal nicht so! Die Lehrer haben doch auch gesagt, dass wir einmal ausspannen sollen.“
„Meine Mutti hat das so festgelegt und so mache ich das auch! Kannst doch in der Zwischenzeit mal mit dem Escher, Elmar raufen, der dich immer so mit Wenn die Eule mit der Keule übern Hackstock springt und die Wurst verschlingt … in Rage bringt. Schließlich wohnt er jetzt nur dreihundert Meter von deiner neuen Wohnung entfernt – im Gegensatz zu früher.“ Mein folgender herrlicher Singsang Muttersöhnchen, Muttersöhnchen – du bist ein supergroßes Muttersöhnchen! brachte den Günther vollkommen außer Fassung, wozu übrigens nicht viel gehörte. Sein Gesicht verzog sich merklich – er war beleidigt, verletzt – und das in hohem Maße. Mehrfach passierte es dann, dass er handgreiflich wurde. Meist riss er an meinem Ranzen herum und das war deshalb so grauenhaft und ärgerlich, weil ich durch die Hebelwirkung vollkommen aus dem Gleichgewicht kam. Leider war der Günther wesentlich kräftiger als ich, aber ich wehrte mich tapfer und wenn die Sache kulminierte und ich in Wut kam, zog er meist den Kürzeren. Groll brach manchmal so plötzlich über mich herein, dass ich mich hinterher selbst wunderte und erstaunt war, wieso dieser so schlagartig in mich hineinschoss. Mit diesem urplötzlichen Zornesausbruch wuchs aber in mir eine bernalische Kraft. Ich kann mich noch gut erinnern, welch enorme Energie durch diesen Jähzorn in mir entstand, als es ihm gelungen war, mich auf den Rücken zu legen und er mit seinen überlangen Haaren in meinem Gesicht herumwedelte, indem er sein Gesicht möglichst nahe zu meinem absenkte und den Kopf bewusst hin und her schüttelte. Es gelang mir, ihn hochzustemmen, zur Seite zu drücken und als wir beide wieder auf den Beinen standen, ein Bein zu stellen, ihn gewaltig zu schubsen und als er auf den Rücken fiel, knallte ich mich drauf. Er behauptete, ich hätte ihm ein paar Rippen gebrochen, zumindest geprellt, und außerdem meinen Ellbogen in sein rechtes Auge gestoßen. Zu Tode beleidigt ging er sofort nach Hause und sprach mehrere Tage nicht mit mir. So war er halt – wollte immer der Klügste, Kräftigste, Intelligenteste und Hübscheste von allen sein. Allerdings muss ich der Wahrheit die Ehre geben – am nächsten Tag war der Bereich um sein rechtes Auge doch ein klein wenig geschädigt. Erst war der Fleck rot, dann wurde er blau, dann gelb und dann verschwand er. Günther wohnte vielleicht fünfhundert Meter von mir entfernt neben dem Feuerwehrgebäude und in der Nähe des Gemeindeamtes. Sein Vater war Baumeister, hatte dieses Einfamilienhaus gebaut.