ich bin erschöpft. Ich kann nicht mehr rausgehen. Und diese Erschöpfung verstärkt wiederum meine Einsamkeit.“
Sie lässt ihre Arme auf die Armlehnen fallen.
„Manchmal habe ich den Eindruck, wenn ich mich mit den zwei anderen Mitarbeiterinnen vergleiche, dass mich alles tiefer trifft, mich alles mehr berührt, alles stärker belastet. Die schütteln alles ab, bei mir bleibt alles hängen.“
Ich mache mir ein paar Notizen.
Im Flur vor meinem Arbeitszimmer steht hinter einem Vorhang ein Kühlschrank.
Plötzlich macht er ein leichtes, aber auffallendes Geräusch. Die junge Dame zuckt wie elektrisiert zusammen. Ich habe das Geräusch nur am Rande wahrgenommen. Die junge Dame schüttelt mitgenommen ihren Kopf.
„Das ist mein Problem, alles trifft mich schwerer. Viele andere Menschen sind dickfelliger und robuster. Die gehen über vieles einfach hinweg. Mir gelingt das nicht.“
Ich unterbreche hier den Bericht und versuche, an diesem Beispiel deutlich zu machen, was Hochsensibilität beinhaltet.
Die junge Dame verkörpert
in ihrem Verhalten,
in ihren Empfindungen,
in ihrem Erleben,
in ihren Wahrnehmungen, dass sie eine Hochsensible ist.
Welche skizzierten Anzeichen sprechen für Hochsensibilität?
Einsamkeit. Sie fühlt sich von vielen Menschen nicht verstanden, zieht sich zurück, verliert den Anschluss;
Erschöpfung – sie kommt im Alltag schnell an ihre Leistungsgrenze, alle Arbeiten und Planungen strengen sie mehr an als andere Menschen;
Außenseiter – sie fällt im Zusammenleben aus dem Rahmen, weil sie mehr hört, mehr sieht, mehr fühlt und intensiver deutet als andere;
Geräuschempfindlichkeit – da oft alle Sinne des Hochsensiblen feinfühliger reagieren, ist Geräuschempfindlichkeit ein auffälliges Charaktersymptom;
Empfindlichkeit – sie reagiert auf alles im Leben empfindlicher, belasteter und gekränkter;
Unsicherheit – die überstarke Sensibilität für alle Eindrücke des Sehens, Fühlens, Hörens und Denkens macht diese Menschen unsicher.
Aufgrund ihrer spezifischen Situation kamen bei dieser Dame die negativen Aspekte der Hochsensibilität stärker zum Vorschein. Hochsensibilität hat selbstverständlich auch positive Seiten. Darauf komme ich später zu sprechen.
Seit wann sprechen wir von Hochsensibilität?
Eine der Ersten, die eine gründliche wissenschaftliche Untersuchung über dieses Thema geschrieben hat, war die Amerikanerin Elaine N. Aron. Sie ist Psychologin und spricht von sich selbst als einer hochsensiblen Persönlichkeit. In ihrem Buch „Sind sie hochsensibel?“1 präsentiert sie die Ergebnisse ihrer jahrelangen Arbeit zum Thema Hochsensibilität als Wissenschaftlerin, Universitätsprofessorin und Romanschriftstellerin. Sie spricht kurz und knapp von HSP, von highly sensitive persons = von hochsensitiven oder hochsensiblen Personen. Die Gleichsetzung von sensitiv und sensibel ist nicht ganz korrekt und wird an anderer Stelle erörtert.
Viele Eigenschaften sind bei Hochsensiblen gleich oder ähnlich, und doch unterscheiden sich alle voneinander. Die Hochsensibilität gibt es nicht. Viele Hochsensible sind begabt und gewissenhaft, geraten aber in existenzielle Krisen. Selbstzweifel und Unsicherheit gehören zu ihrem Leben, aber auch ihre Gaben sind beachtlich. Wo beruflich
eine differenzierte Wahrnehmung,
eine besondere Einfühlung,
eine gute Beobachtungsgabe,
eine hilfreiche Intuition und Kreativität
erforderlich sind, finden diese Menschen Anerkennung. Nicht zufällig sind darum viele Dichter, Maler Künstler, Denker und Forscher hochsensible Menschen.
Ein weiteres Buch mit diesem brisanten Thema hat in Deutschland von sich reden gemacht. Es wurde von dem Ehepaar Christa und Dirk Lüling geschrieben. Die beiden sind Gründer und Leiter der Familienarbeit TEAM F, neues Leben für Familien e. V.2
Christa Lüling kennzeichnet sich selbst als hochsensibel. Da sie zahlreiche Schwierigkeiten im Zwischenmenschlichen erlebte, empfand sie sich als „überspannt“ und als „Versagerin“. Ein Vortrag des amerikanischen Predigers John Sandford mit dem Thema „Heilung für verwundete Lastenträger“ brachte ihr Hilfe und Einsicht. Ihr gingen „mehrere Lichter auf“: Sie merkte, dass sie eben hochsensibel und „ein ausgeprägter Lastenträger“ war. Ihrem Buch, das sie mit ihrem Gatten geschrieben hat, gab sie dann den Titel: „Lastentragen, die verkannte Gabe – Hochsensible Menschen als emotionale Lastenträger“. Das Ehepaar legt Wert darauf, von einer „speziellen Begabung“ zu sprechen.
Nach Meinung vieler Forscher wird übrigens auch bei Tieren das Phänomen der Hochsensibilität beobachtet. Die Prozentzahl gleicht der bei Menschen.
Zwei Bücher habe ich herausgegriffen. Selbstverständlich gibt es inzwischen mehrere Veröffentlichungen. Aber in Seelsorge und Beratung wird dieses Thema bis heute stiefmütterlich behandelt, zum Nachteil vieler Betroffener.
Zunahme von seelischen Störungen
Sensible und Hochsensible hat es immer geben. Während ich mit diesem Kapitel beschäftigt bin, lese ich zwischendurch die Tageszeitung. Einige Male in der Woche werden Leserfragen beantwortet, die nach der Herkunft von Sprichwörtern und Redewendungen fragen. Heute fragt ein Leser: „Woher stammt der Begriff ‚Die Flöhe husten hören’?“ Eine Redewendung, die punktgenau beschreibt, was Menschen mit Hochsensibilität umtreibt. Die Antwort der Redaktion: „Die Redewendung steht für frühzeitig informiert und sensibel für Neuigkeiten sein oder auch kleine Veränderungen wahrnehmen und Sachverhalte erahnen können. Spöttisch steht sie auch für eine Einbildung, die gar nicht existiert. Die Redensart ist seit dem 16. Jahrhundert belegt. Sie verwendet das Bild des überscharfen Gehörsinns.“3
Seit Jahrhunderten hat man gewusst:
Es gibt Menschen, die sensibel auf alles Neue reagieren,
die kleinste Veränderungen wahrnehmen,
die Sachverhalte erahnen,
die einen überscharfen Gehörsinn haben,
die spöttisch als Eingebildete kritisiert werden.
Eine weitere Redewendung drückt es ähnlich aus: „Sie hören das Gras wachsen.“ Immer hat es Menschen gegeben, die mehr gehört, mehr gesehen und mehr wahrgenommen haben.
Was erleben wir auf dem Gesundheits- und Krankheitssektor? Die Gesetzlichen Krankenversicherungen sprechen von einer Zunahme von seelischen Störungen seit 1990. Heute verbringen Menschen mit seelischen Störungen und Krankheiten mehr Tage in Kliniken als Herz-Kreislauf-Kranke. Durch gute Präventionsmaßnahmen – sportliches Training und bessere Ernährung – haben sich die Aufenthalte von Herz-Kreislauf-Kranken um 41 % verringert.
Die Zahl der seelisch Gestörten dagegen ist erheblich angestiegen.
Ein Grund: Für diese Menschen wird vorbeugend zu wenig getan. Ein zweiter Grund: Der soziale Wandel und die globalisierte Industriegesellschaft, die Hektik, Stress und Ängste fördern, belasten den Menschen zunehmend.
Sind diese Menschen zusätzlich hochsensibel,
fühlen sie sich leichter überfordert,
fühlen sie sich von Geräuschen und visuellen Eindrücken bombardiert,
erleben