geblieben? Er musste doch längst sein Auto abgestellt haben und ins Haus gekommen sein.
Sicher hatte er den Lift genommen.
Noch einmal streicht sie über Christians Wangen.
Dann geht alles sehr schnell. Sr. Anja und Sr. Paula stehen plötzlich neben ihr. Sie hat das Kommen der Beiden nicht bemerkt. Sie ist weit weg, bei Christian.
Behutsam nimmt Sr. Anja die Hand von Wanda und führt sie in ihr Zimmer während Paula sich um Christian kümmerte. Wanda setzt sich auf einen Stuhl. Langsam lässt die Spannung nach und ein erlösendes Weinen lässt ihre Muskeln entspannen. Nach einer Weile kehrt Wanda wie aus einer Ohnmacht zurück ins Hier und Jetzt.
„Tief einatmen, ja das hilft. Sie haben einen leichten Schock erlitten. Ganz ruhig“, wohltuend hört sie die Stimme von Schwester Anja.
„Soll ich Ihnen etwas zum Essen besorgen?“
Schwester Anja bringt Tee und eine Scheibe Brot mit Käse.
„Sie können mich aber nun alleine lassen. Ich bin okay. Danke für alles, Schwester Anja.“
„Meine Gedanken begleiten ihn auf seinem Weg. Das habe ich ihm versprochen.“
Schwester Anja drückte die Hand von Wanda. „Er war ein Kind Gottes, so haben wir ihn immer gesehen.“ Mit diesen Worten und einem beruhigen Lächeln verlässt Schwester Anja das Zimmer.
Sie spürt, dass Wanda jetzt alleine sein will. Sr. Anja hat seit über vierzig Jahren ältere Menschen begleitet, ist ihnen nahe gewesen. Hat die Angehörigen oft getröstet, wenn Mutter oder Vater gestorben waren. Dabei hat sie eine Sensibilität entwickelt, die es ihr ermöglicht, in entscheidenden Situationen einfühlsam zu reagieren.
Wanda schiebt einen Stuhl in die Nähe des Sessels, um ihre Beine darauf zu legen. Sie setzt sich hin und schließt die Augen.
Was für ein Tag.
Es war das erste Mal gewesen, dass sie den Tod so nahe erlebt hatte. Jacob war im Krankenhaus gestorben und so hatte sie sein Sterben, sein Letztes auf dieser Welt, nicht erlebt. Er hatte mehrere Tage im Koma gelegen und sie war tagsüber und viele Nächte bei ihm gewesen. Sie hatte neben seinem Bett auf einem Sessel geschlafen. Die Ärzte hatten gesagt, sie solle nach Hause gehen und sich ausruhen. Eine Stunde nachdem sie gegangen war, war er dann gestorben. Vielleicht hatte er es so gewollt.
Vorhin hat sie dem Tod von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden. Sie hatte ihn direkt erlebt. Nun empfand sie das Sterben anders.
Plötzlich glaubt sie ein Geräusch zu hören. Sie öffnete die Augen. Vor ihr steht Wendelin und nimmt sie ganz fest in seine Arme. Sie hat sein Klopfen nicht gehört.
„Wanda, soviel ist geschehen, seit wir uns verabschiedeten. Und doch sind erst weniger als hundert Minuten vergangen.“
„Oh Wendelin, ich hatte mir vorhin so gewünscht, dass du kommst.“
Wanda setzte sich auf die Couch und Wendelin nimmt im Sessel, ihr gegenüber Platz.
„Wenn du nicht zu müde bist, würde ich gerne erfahren, wie und was alles geschehen ist.“
„Ich hole uns einen Wein?“
Wendelin nickt zustimmend.
Unbemerkt, wie selbstverständlich, waren sie zum Du übergegangen. „Auf Christian, dass er eine gute Reise hat.“
„Es ging alles sehr schnell. – Ich glaube, es war gut, dass ich bei ihm war. Er wollte nicht alleine sein.“
„Ich habe ihn kaum gekannt da ich ja noch nicht so lange hier bin. Er hatte eine Behinderung, wie ich hörte.“
„Er war ein ‚Kind Gottes’ wie Sr. Anja es nannte. Das ist wohl eine sehr passende Formulierung, denn er war ein fröhlicher Mensch.“
„Nun endet dieser erste gemeinsame Tag mit einem so traurigen Ereignis.“
„Es ist eigentlich nicht so traurig. Christian ist seiner Bestimmung entgegen gegangen. Wir beide sind uns näher gekommen. Lass’ es uns von dieser Seite sehen. Alles hat eine Bedeutung. – Es ist mir bestimmt gewesen, heute bei Christian zu sein, damit er nicht alleine war. Und das gibt mir ein gutes Gefühl. Es ist größer als Traurigkeit. Ich kann in seinem Tod sogar etwas wie Freude für ihn empfinden, Freude darüber, dass er sein Ziel erreicht hat. Er hat nun keine Angst mehr.“
„Welch ein Zufall, dass du die Treppe genommen hast und nicht den Lift. Wahrscheinlich hätte man ihn erst gefunden, als er schon tot war.“
„Ich glaube nicht an Zufälle. Damit kann ich nichts anfangen. Alles hat einen Sinn, alles unterliegt einer Bestimmung. Oder man kann auch sagen, es war eine meiner Aufgaben in diesem Leben, Christian beim Abschied zu begleiten. Ich habe ein so gutes Gefühl im Nachhinein, dass ich es sein durfte, die bei ihm war. Es gibt mir ein friedvolles, dankbares Gefühl.“
Sie schweigen beide.
Wanda ist plötzlich sehr müde. Sie hebt ihr Glas. „Wendelin, trinken wir auf diesen Augenblick, den wir gemeinsam erleben.“
Wendelin hebt sein Glas und leert es. Dann verabschiedet er sich. Es war ein erlebnisreicher Tag. Auch er spürt nun, nachdem er mit Wanda gesprochen hat, eine kaum zu unterdrückende Müdigkeit aufsteigen. Beide schlafen ganz bald ein. Jeder in seinem Zimmer und doch spüren beide die Nähe des anderen.
Im Traum geht Wanda durch einen langen, dunklen Tunnel. Sie sieht das Licht am Ende des Tunnels. Aber sie muss umkehren. Es ist nicht ihr Weg. Noch nicht. Sie läuft zurück, immer schneller. Plötzlich ist es kein Tunnel mehr. Es ist ihr Strand. Sie steht vor ihrem Haus in Fort Lauderdale. Die Türe ist angelehnt und sie geht hinein. Aus dem großen Spiegel im Eingang lächelt ihr eine junge Frau entgegen. Welcome at home.
Unruhig dreht sie sich im Bett. Sie schläft wieder ein. Sie träumt erneut. In einem Boot fährt sie durch eine enge, dunkle Schlucht zwischen zwei Felsen hindurch. Ein Jeep hält auf der anderen Seite der Felsen. Ein Mann kommt auf sie zu. Das offene Meer liegt vor ihr. Sie verlässt das Boot und geht über schwarzen Kies. Bis zu den Fußgelenken versinkt sie im Wasser. Sie schaut sich um. Einer der beiden Männer, die mit dem Jeep kamen, versinkt im schwarzen Kies. Nur noch sein Kopf schaut heraus. Sie hat Angst, läuft immer schneller bis sie einen steilen, grasbewachsenen Hang erreicht. Mühevoll zieht sie sich an den Grasbüscheln hoch. Oben ist eine Straße. Dort muss sie hin. Menschen in indischen Gewändern gehen lachend über diese Straße. Sie muss diese Straße erreichen. Dort kann sie leben. Nur nicht zurück, dort unten ist der Tod. Mühevoll versucht sie, sich die letzten Meter hoch zu ziehen. Doch die Grasbüschel reißen. Nun versucht sie rechts neben sich andere Grasbüschel zu fassen. Ihre Finger umklammern ein Stück Holz, das fest im Boden steckt. Es ist eine Wurzel. Sie hält sich daran fest. Es ist einfacher, seitwärts höher zu steigen. Noch einmal nimmt sie die verbleibenden Kräfte zusammen. Nur nicht nach unten schauen. Die Gedanken arbeiten fieberhaft. Hoch, ich muss hoch. Nur Zentimeter trennen sie vom Straßenrand. Ich muss dort oben einen Halt finden. Den Fuß zwischen Wurzel und Boden klemmen. Sie erwacht. Ihr Puls rast. Sie wäre so gerne dort oben angekommen!
Noch lange liegt sie wach – - – Sie ist müde von der Anstrengung, denn es war ein energieraubender Weg.
Sie steht auf und macht sich kurze Notizen über den Traum. Auf dem Tisch steht ihr Glas vom Abend. Den letzten Schluck Wein trinkt sie aus, und dann legt sie sich erneut ins Bett. Sobald sie den Kopf auf das Kissen legt, den Geruch ihres Haarsprays auf dem Kissen riecht, kehren die Bilder des Traumes wieder, etwas schwächer jetzt, aber doch noch deutlich genug, um sie am Einschlafen zu hindern. Sie riecht das Gras. Wird sie in einem neuen Traum die Straße erreichen?
Was ist geschehen?
Wanda hat Wendelin in der letzten Woche nicht gesehen. Ohne eine Nachricht für sie, Wanda, zu hinterlassen, ist er verschwunden. Sicher könnte sie von der Schwester erfahren, wo er so plötzlich abgeblieben ist. Aber sie will keineswegs das Interesse der anderen auf sich lenken. Und trotzdem, sie muss etwas tun. Denn sie vermisst Wendelin. War er denn schon so wichtig geworden? Na gut, zuerst