aus der Villa kam für ihn überhaupt nicht infrage. Und er verteidigte mich selten, wenn ich ignoriert oder verbal angegriffen wurde. Er schwieg.
Zwar entwickelte sich unsere kleine Laura prächtig, aber auch noch nach Monaten erfuhr sie vom Rest der Familie kaum Beachtung.
Es drehte sich weiterhin alles nur um Kai. Zu seinem siebten Geburtstag erhielt er ein Sparbuch mit einem fünfstelligen Betrag. »Ein Grundstein für sein erstes Auto«, lachte meine Schwiegermutter und drückte Kai fest an sich.
Mein Mann schwieg, ich schwieg. Simone und Fred schauten verlegen aus dem Fenster. Die anderen Kinder lärmten desinteressiert.
Den überladenen Geburtstagstisch empfand ich als eine Provokation. Unsere Tochter hatte bis dato nicht ein Strampelhöschen erhalten.
An der Kaffeetafel streckte unsere Laura von meinem Schoß aus ihre beiden Ärmchen in Richtung Großmutter. Die ignorierte es. Schnell liebkoste ich meine Kleine, um ihr über die Enttäuschung hinwegzuhelfen.
»Du verzärtelst sie«, war der Kommentar meiner Schwiegermutter mit eisiger Stimme. Immerhin ein paar Worte, die an mich gerichtet waren.
Laura war etwa sieben Monate, als ich begann, die Familie zu hassen, meinen Mann inbegriffen. Die anfängliche Ohnmacht war einem Zorn gewichen, der deutlich meinen Herzschlag beschleunigte, sobald ich einem Mitglied der Familie begegnete.
Ich wollte fort mit meiner Kleinen, was hielt mich? Bloß heraus aus diesem goldenen Käfig, der von Monstern bevölkert war, die mich das Fürchten lehrten. Ich spürte neben Verletzungen auch Neid. Nicht für mich wünschte ich etwas, nur für mein Kind, eine Umarmung, ein Lächeln, eine Liebkosung.
Es geschah an einem der ersten Dezembertage. Ich hatte Laura zum Ausfahren angezogen und in die Karre gesetzt. Wir wollten das Grundstück verlassen, als Kai mit einem Paket unter dem Arm den Gartenweg heraufkam.
Er war unschuldig an der Situation im Hause, hatte ein sonniges, liebenswertes Wesen. Ich aber konnte nicht mehr differenzieren.
»Tante Ina«, er zeigte auf das Paket, »da drin sind Groggläser, die habe ich für meine Mama zum Geburtstag gekauft. Omi hat mir das Geld gegeben.« Er legte das Paket vor die Kinderkarre, sodass ich anhalten musste.
Dann beugte er sich zu Laura hinunter und streichelte ihr pausbäckiges Kindergesicht.
Die Kleine strahlte ihn an und quietschte vor Vergnügen.
In mir brach ein Damm, der angestaute Zorn entlud sich. Ich reagierte völlig unverhältnismäßig.
»Nimm deine schmutzigen Finger weg, Kai, was fällt dir ein?«, brüllte ich und riss an seiner Hand, ihm bewusst Schmerzen zufügend.
Kai schaute mich hilflos und erschrocken an. Tränen füllten seine Kinderaugen.
Er senkte verlegen den Kopf, hob sein Paket auf und stapfte wieder den Gartenweg hinunter, bog um die Ecke und entschwand kurzfristig meinem Blickfeld. Wohin wollte er?
Eine Minute danach. Ein entsetzlicher Knall, ein Quietschen, dann ein Scheppern. Etwas wirbelte durch die Luft. Ein dumpfer Aufprall. Stille.
Ich hastete zur Straße, ahnte, nein ich wusste, was passiert war.
Eine kleine graue Pudelmütze lag auf dem Fußweg vor dem Gartentor, unweit davon der Karton mit dem Geburtstagsgeschenk.
Ein Auto stand diagonal zur Fahrbahn, blockierte auch den Fußweg. Davor ein kleiner verkrümmter Körper mit unnatürlich aufgerissenen Augen. Eine schmale, leuchtend rote Blutspur lief über das Kinn.
Ein paar Tage später hatte meine Schwägerin Geburtstag. Ihr Sohn lag im Koma auf der Intensivstation der Universitätsklinik.
Meine Schwiegermutter war nicht ansprechbar. Eine gebrochene Frau, einsam in ihrer Trauer um das für sie Liebste und Einzigartige. Grau und alt sah sie aus, verweigerte die Nahrung und starrte stundenlang auf das Telefon.
Ich schämte mich entsetzlich, erzählte niemandem von dem letzten Gespräch mit Kai.
Fünf Tage später, Lauras erster Geburtstag.
Um drei Uhr morgens schrillte im Haus ein Telefon. Ich wusste es sofort. Meine Gebete waren nicht erhört worden. Lähmung erfasste mich, aber ich musste aufstehen. Mein Mann erhob sich ebenfalls schlaftrunken. Wir warfen uns die Bademäntel über und eilten in den Wohntrakt von Fred und Simone.
Sofort erschienen dort auch die Schwiegereltern. Schwiegermutter war nur noch ein Schatten ihrer einstigen Erscheinung. Jegliche Überheblichkeit war von ihr abgefallen.
Niemand sagte etwas. Der Telefonhörer baumelte von Freds rechtem Handgelenk, nur ein unpersönliches Tuten war noch zu hören. Simone klammerte sich zitternd an ihren Mann.
»Tot«, flüsterte sie. »Er ist tot.«
Die Glühbirne einer Stehlampe begann zu flackern, als wollte sie erlöschen. Das gespenstische Licht gab der Szene etwas Unwirkliches.
DU BIST NICHT ALLEIN
»Ein Kind? Alles ist okay, wir schaffen das. Du bist nicht allein.«
Wir schaffen das, w i r. Mit zwei Fingern hatte er ihr Kinn angehoben, sie angelächelt und mit einem Blick aus seinen dunkelblauen Augen ihre Seele gestreichelt.
Mit einer Handbewegung konnte er ihre trüben Gedanken verjagen, ihren Mut stärken und sie glauben lassen, sie wäre das Wichtigste für ihn.
Das Wort Vertrauen hatte er häufig benutzt und das Wort Zukunft betraf immer sie beide.
»Liebe, Liebes, Liebling.« Sie hatte sich seine Worte auf der Zunge zergehen lassen wie eine Praline. Seine Äußerungen hatten sie über den Tag begleitet und sie abends glücklich einschlafen lassen.
In einem langen, weißen Kleid wollte sie irgendwann mit ihm tanzen, in seinen Armen in den Himmel schweben.
Träume. So etwas gab es nicht in der Realität, jedenfalls nicht für sie.
Obgleich ihre Eltern vor Jahren gestorben waren, schämte sie sich vor ihnen. Sie fühlte den Blick ihrer Mutter aus traurigen Augen auf sich ruhen und meinte, ihre Stimme zu hören: »Kind, was hast du nur aus deinem Leben gemacht. So etwas muss doch heute nicht mehr passieren.«
Und Vater? Vater hätte geschwiegen, sich abgewandt, als wollte er sie für immer vergessen.
War sie dumm und leichtgläubig, weil sie erst achtzehn Jahre war und keine Erfahrungen hatte? Warum konnte sie sich niemandem anvertrauen? Gab es überhaupt einen Menschen, den ihr Kummer interessierte? Woher kam diese Blockade, die Lähmung ihrer Stimmbänder, wenn es um ihre Probleme ging?
Nein, sie wollte sich niemandem mitteilen, kein Mitleid erfahren. Sie fürchtete die Blutleere im Herzen vieler Menschen.
Sollte sie in den eiskalten Fluss springen? Sie wollte doch gar nicht sterben. Und das Kind?
Es musste weg. So viel stand im Moment fest. Sie hatte Angst vor dem Eingriff.
Vielleicht hatte es schon Augen und würde sie flehend anschauen, wenn es ihren Körper verließ. »Absurd«, schalt sie sich und spürte Tränen auf ihrem Gesicht.
Sie war auf dem Weg zum Supermarkt. Ihren leeren Einkaufsbeutel legte sie auf eine schneefreie Bank und setzte sich darauf.
Gesunde Lebensmittel wollte sie kaufen, Obst, Gemüse und Fisch. Gut sollte es ihm gehen. Das Kind sollte sich prächtig entwickeln. Es würde auch ohne Vater eine gute Chance bekommen.
Und dann wieder überfielen sie erdrückende Zukunftsängste, überspülten sie wie Wellen, warfen sie an den Strand wie Strandgut, wertloses Strandgut. Nutzlos, hilflos, ausgeliefert!
War sie nun eigentlich für oder gegen das Kind?
»Wir leben nicht im 17. Jahrhundert«, schalt sie sich. »Irgendwie wird es schon weitergehen, aber wie?« Mit ihm wäre das kein Problem gewesen. Aber allein? Nein, das würde sie