Resignation?
Freude und Sorge hatte sie empfunden, als ihr der Arzt gratulierte. Andere haben das auch geschafft, häufig in noch schwierigeren Situationen. Auch ungeplante Kinder wurden schon immer geboren.
Erst seine Zuversicht, dann sein Schweigen. Er meldete sich nicht mehr.
Andere waren bestimmt stabiler, hatten Eltern, Geschwister, Freunde. Sie konnten etwas abgeben von der Verantwortung, die sie jetzt zu erdrücken drohte. Wie sollte sie arbeiten und ein Kind groß ziehen? Im nächsten Monat endete ihre Lehrzeit. Der Vorgesetzte hatte von einem sehr guten Abschluss gesprochen und von Übernahme, aber mit einem Kind?
Nein, es musste weg, bevor jemand etwas bemerkte, weg, weg! Es verbaute ihr die Zukunft. Dazu hatte es kein Recht und somit keinen Platz in ihrem Leben. Das war unumstößliche, beschlossene Sache. Sie entspannte sich.
Eine Frau ging vorüber. Unter dem Wintermantel zeigte sich deutlich der gewölbte Leib einer Hochschwangeren. Die Fremde lächelte und wirkte so glücklich, so überlegen, stark und stolz. Lange schaute sie ihr hinterher, registrierte den typischen Gang werdender Mütter, etwas breitbeinig, jeden Schritt ausbalancierend, das werdende Leben schützend.
Das werdende Leben schützen? War das nicht auch ihre Aufgabe? Wie konnte sie nur diese anderen Gedanken zulassen! Unmöglich! Schließlich lebte sie in einem reichen Land, in dem niemand hungern musste. Aber reicht ein gefüllter Magen zum Leben?
Vielleicht kam er ja auch zurück. Vielleicht beruhte seine Abwesenheit auf einem Missverständnis, obgleich er sich wiederholt am Telefon verleugnen ließ.
Vielleicht fühlte er sich überrumpelt, musste nachdenken. Noch einmal jedenfalls würde sie ihn nicht anrufen.
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Erst einmal musste sie diese Bank verlassen und mit ihr die trüben Gedanken. Kälte war ihr den Rücken emporgekrochen, Hände und Füße kribbelten.
Sie erschrak bei dem Gedanken, das Ungeborene könnte ihre Gefühle wahrnehmen. Welche Ängste müsste es ausstehen?
Am Montag wollte sie in Erfahrung bringen, wer ihr helfen konnte, dem neuen Erdenbürger eine Chance zu geben. Es gab auch noch die Möglichkeit der Freigabe zur Adoption. Der Gedanke gefiel ihr aber nicht für ihr Kind. Wenn nun die Adoptiveltern keine guten Eltern waren?
Sie empfand keinen Zorn mehr darüber, dass der Wunsch nach Leben sich über ihre Verhütungsmethode hinweggesetzt hatte. So ein starker Knirps, hatte sich einfach festgekrallt in ihr.
Sie betrat den Supermarkt. Hier war es angenehm warm. Für die Auswahl der Lebensmittel ließ sie sich Zeit.
Da sah sie ihn. Er hatte sich im Gespräch einer jungen, attraktiven Frau zugewandt. Zwei etwa sechsjährige Jungen begleiteten die beiden, offensichtlich Zwillinge. Eine seiner Hände lag vertraut auf der Schulter der Frau.
Die Jungen hatten die Augen ihres Vaters und auf der Nase Sommersprossen.
Ihr wurde schwindelig und übel. Sie schämte sich für ihre Naivität.
Wie war er verlogen! Wollte er sich so ganz einfach aus der Verantwortung stehlen? Sie ballte die Fäuste. In gleichem Maße empfand sie Wut und Trauer.
Sie hatte ihm geglaubt, als er ihr sagte, dass er Single wäre und kinderlos. Wehmut und leichte Traurigkeit lagen dabei in seinem Blick.
Sie lehnte sich gegen ein Regal. Nach drei erholsamen Atemzügen verließ sie fluchtartig den Laden. Den Einkaufswagen hatte sie stehen lassen.
Erst als der Supermarkt außer Sichtweite war, verringerte sie das Tempo.
Sollte er noch eine Chance bekommen, ihr das zu erklären? Nein!
Endlich begriff sie, warum er ihr nur seine Handy- und die Büronummer gegeben hatte. Sie gewann Klarheit über ihre ständigen Ausflüge aufs Land, über die kurzen Abendstunden, die seltenen gemeinsamen Übernachtungen! Wie war sie blöd gewesen! Nein, sie hatte es nicht wissen wollen!
Ein bitterer Geschmack füllte ihren Mund. Sie musste sich doch von dem Kind befreien, es töten lassen, wie ein lästiges Insekt. Heute noch, spätestens morgen.
»Der Schuft, dieses miese Schwein«, murmelte sie, während sie in Richtung Bushaltestelle ging.
Kurz davor geriet sie in eine Menschenansammlung.
Sie sah einen geöffneten Notarztwagen. Auf einer Trage lag eine Frau, das Gesicht schmerzhaft verzogen.
Plötzlich trafen sich ihre Blicke und sie erkannte die Frau, deren fortgeschrittene Schwangerschaft ihr aufgefallen war, die vorüberging, als sie auf der Bank saß.
Sie stieß zwei neugierige Passanten zur Seite‚ erreichte die Trage und ergriff intuitiv eine Hand der Fremden, um sie mit der anderen tröstend zu streicheln.
»Gehören Sie zu ihr?«, fragte ein Sanitäter. »Kommen Sie, steigen Sie ein, vielleicht müssen Sie Geburtshilfe leisten, falls wir es nicht mehr ins Krankenhaus schaffen.« Er lächelte.
Die Fremde ließ ihre Hand nicht los. »Du bist nicht allein«, flüsterte sie der Unbekannten aufmunternd zu.
Zwanzig Minuten später durfte sie das große Wunder der Geburt erleben. Der Kleine war krebsrot und knautschig und doch so unbeschreiblich schön. Die Lungen arbeiteten gut, er begrüßte die Welt mit kräftigem Gebrüll.
Als das Kind in warme Tücher gehüllt bei der Mutter im Arm lag, meinte diese erschöpft lächelnd: »Ich danke Gott und ich danke dir. Ich habe sonst niemanden. Vielleicht kann ich dir einmal etwas zurückgeben für deinen heutigen Beistand.« Sie angelte eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche, die neben dem Bett auf einem Stuhl lag, und gab sie ihr.
Dann widmete sie sich wieder ihrem Kind.
Andere Anwesende waren nicht mehr von Wichtigkeit. Mutter und Kind genügten sich. Sie verließ auf Zehenspitzen den Raum.
Draußen lehnte sie sich gegen die Hauswand, presste die Hand gegen ihre Brust, um den Herzschlag zu beruhigen. Das überwältigende Ereignis hatte sie völlig erschöpft und doch gestärkt. Sie lachte und weinte gleichzeitig. Gott hatte ihr dieses Erlebnis beschert, um alle Zweifel auszuräumen.
So ein Wunder würde alle Hindernisse klein und unbedeutend werden lassen.
Wie hatte sie zweifeln können! Wie hatte sie glauben können, es nicht zu schaffen! »Ich bin doch nicht allein«, murmelte sie an ihr Kind gerichtet, als sie das Krankenhausgelände verließ.
FÜGUNGEN
In der Erinnerung liegt eine Lebendigkeit, deren Intensität die Wirklichkeit manchmal übertrifft.
Ich schließe die Augen und lehne mich behaglich im Gartenstuhl zurück. Vierzig Jahre ist es her, und doch haben die Bilder eines bestimmten Tages ihre Konturen nicht eingebüßt. Nicht Intellekt, Begabung oder Ehrgeiz veränderten mein Leben positiv, sondern allein meine Schusseligkeit.
Siebzehn Jahre war ich damals. Als Schülerin arbeitete ich in den Schulferien, um Mutter von der Taschengeldzahlung zu entlasten.
Ich war die Jüngste von drei vaterlosen Geschwistern.
Mutter bestritt durch Fabrikarbeit und Klavierunterricht unseren bescheidenen Lebensunterhalt.
Es war selbstverständlich für uns, die Verantwortung für unser Auskommen mit zu tragen, sofern es unsere schulischen Leistungen und unsere Zeit am Nachmittag erlaubten.
Für die Weihnachtsferien bekam ich einen Job im Archiv der Bundespost.
Archiviert wurde damals anders, als heute. Noch hatte der PC keinen Einzug in die Bürowelt gefunden.
Das bedeutete, eine Gruppe von etwa 10 Personen musste aus deckenhohen Regalen schwere Ordner ziehen, Belege sichten und abheften, und die Ordner zurückstellen. Es war eine staubige Angelegenheit, dazu in schwindelerregender Höhe.
Hier im Kellerarchiv war es nicht nur extrem staubig,