Astrid Seehaus

Loverboy


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Die Dächer waren eingestürzt, die Wände eingefallen, überall lag Bauschutt vermischt mit dem Unrat vieler Jahre. Vom Sperrmüll bis zu unzähligen Müllsäcken, aufgerissen und zerfetzt, der Inhalt vom Wind verteilt – hier war alles abgeladen worden, was man nicht mehr brauchte. Ein ideales Versteck für Dinge oder Menschen, die verschwinden sollten. Bis jemand sich ein Herz fassen, das Grundstück übernehmen und aufräumen würde. Nur wann würde das sein? Niemand schien Interesse an diesem heruntergekommenen Gelände zu haben.

      Nur mit Mühe erkannte Carel Umrisse von Maschinen und Containern, die Regen und Wind ausgesetzt waren und vermutlich schon seit Jahren vor sich hin rosteten. Maschinen, die einst einen Wert besessen hatten. Fässer waren offensichtlich für einen Abtransport zusammengestellt und dann doch nicht abgeholt worden. Der Wind fuhr unter eine Kunststofffolie, und das plötzliche Knattern ließ Carel zusammenfahren.

      Hatte er sich vielleicht doch geirrt? War es nicht Zaschas krankes Hirn, das ihn aufrieb, sondern sein eigenes? Warum war er sich so sicher, dass das Mädchen tot war? Vielleicht hatte sie wirklich geschlafen. Doch was, wenn sie bewusstlos war? Was würde Zascha dann mit ihr tun?

      Carel rieb sich die Augen. Diese Müdigkeit nervte ihn. Sie machte ihn unkonzentriert. Ratlos lauschte er in die Nacht hinein. Der Wind hatte zugenommen, und es war schwer, etwas in diesem böigen Rauschen auszumachen. Weit entfernt hörte er das zornige Hupen eines Lastwagens, etwas flatterte neben ihm auf. Erschrocken fuhr er herum und versuchte seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen, als er einen Nachtvogel davonfliegen sah. Das nahe Aufheulen eines Motors ließ ihn auf einmal hoffen. Er stolperte um ein Häuschen herum, in dem vielleicht einst das Büro untergebracht gewesen war, und erspähte einen rollenden Schatten, der sich vom Gelände entfernte.

      Noch einmal war der Zufall in dieser Nacht Carels bester Freund. Das Mädchen war in seiner Nähe. Er spürte es. Er spürte es so sehr, als ob jemand ihn an die Hand nähme und zu ihm führte. Als Carel sich langsam vortastete, fiel er über eine räudige Katze, die ihm aufkreischend die Krallen in den Knöchel hieb. Fluchend rieb er sich die schmerzende Stelle, und dann sah er sie. Vielmehr zuerst das Kleid. Zascha hatte sich nicht die Mühe gemacht, das Mädchen zu verstecken. In dem weißen Kleid wirkte es auf den schwarzen Müllsäcken wie die umgefallene Marzipanfigur einer Hochzeitstorte. Er musste sich sehr sicher gewesen sein, dass niemand diese Hölle betreten würde. Wer kam auch schon freiwillig hierher?

      Nun, Zascha hatte sich getäuscht, Carel war hier, und das wiederum bedeutete, dass Zascha keine Ahnung hatte, dass er verfolgt worden war.

      Carel suchte mit zittrigen Fingern den Puls des Mädchens. Seine Haut war weich und samten. Aber es war kein Leben auszumachen. Er war zu spät gekommen. Zu spät. Wie profan das doch klang. Man kam zu spät zu einer Verabredung. Zu spät zum Unterricht. Man verpasste den Bus, weil man zu spät war. Aber zu spät zu sein, um das Leben eines Menschen zu retten? Das war so … unglaublich banal. Er ballte die Fäuste und wusste eines: Dieses Schwein würde ihm nicht so einfach davonkommen!

      Rothe schnaubte leise, als der Mann am Nebentisch wie von Fäden gezogen aufstand, nachdem ihm die beiden Prostituierten aufreizende Blicke zugeworfen hatten. Der Zuhälter wirkte angespannt, drängte sie weiterzugehen, scheuchte sie wie Schafe vor sich her. Immer wieder ging er sich mit fahrigen Händen durchs Haar, nestelte an seiner Jacke und sah sich um. Die Mädchen setzten eine unbeteiligte Miene auf, wenn er mit ihnen sprach, und lächelten, wenn sie meinten, einen potenziellen Freier im Blick zu haben. Seinen Nachbarn schien das alles nicht zu bekümmern. Er legte ein paar Münzen auf den Tisch und folgte dem Dreiergespann. Die Kontaktaufnahme fand im Gehen statt, bis man sich über den Preis einig wurde. Mit einem kurzen Nicken gab der Zuhälter einer der jungen Frauen zu verstehen, in den Wagen des Freiers zu steigen. Der schwarze BMW hatte ein Erfurter Kennzeichen, und Rothe merkte sich reflexartig die Nummer. Was hatte dieser Lude mit seinen Mädchen im beschaulichen Heiligenstadt zu suchen? Und wo blieb Jessi?

      Langsam riss ihm der Geduldsfaden, was sein Bemühen, den Morgen zu genießen, ins Gegenteil verkehrte. Seit Simone nicht mehr mit ihm sprach, war er ein unzufriedener und ungeduldiger Kerl. Einer dieser unsympathischen Typen, die er selbst nicht ausstehen konnte. Er wusste es, nur konnte er nichts daran ändern. Dazu müsste Simone ihm wieder gut sein.

      Er hörte die Kirchenglocken elfmal schlagen. Und endlich sah er Jessi, wie sie sich in dem Rollstuhl über das Pflaster kämpfte. Ihre neuerdings dunkelroten Locken wippten in der Morgensonne, und das gepunktete Kleid umspielte ihre Knie. Trotz des Rollstuhls sah sie aus wie ein normales Mädchen, besser gesagt, wie ein normales verliebtes Mädchen, denn seitdem Jessica mit Matthias zusammen war, war sie ein fröhlicher Teenager. Matthias war es letztendlich auch gewesen, der den Ausschlag dafür gegeben hatte, dass sie wieder auf ihr Äußeres achtete. Frank Rothe sah seine Tochter selten in einem Kleid. Aber die regelmäßige Physiotherapie hatte ihren Beinen wieder Form gegeben, und nun zeigte sie sie gerne. Für ihn als Vater ging es bei diesem Anblick um mehr als die modische Erscheinung seiner Tochter; es war eine Bürde, die ihm genommen worden war, als er festgestellt hatte, dass Jessica wieder Interesse am Leben hatte.

      Plötzlich stieß der BMW für ein Wendemanöver zurück, und Rothe riss es vom Stuhl. Es war nur Jessicas schneller Reaktion zu verdanken, dass der Wagen sie nicht streifte. Während Rothe mit langen Schritten auf sie zulief, kam sie ihm atemlos entgegen.

      „Dieser verdammte Idiot!“, fluchte Rothe.

      Der Fahrer fuhr davon, ohne auch nur ein winziges Zögern erkennen zu lassen; wahrscheinlich hatte er Jessica nicht bemerkt. Obwohl nichts passiert war, klappte Rothe sein Notizbuch auf und notierte sich Uhrzeit und Kennzeichen.

      „Dich kriege ich noch, du Arsch!“, rutschte es ihm heraus.

      Als Jessi ihn mit einem Kuss begrüßte, hatte er seinen Ärger bereits wieder beiseite geschoben und lächelte.

      „Hast du das gesehen?“, fragte sie atemlos.

      „Ja, habe ich. Und du wirst immer besser, bist ihm ja schnell ausgewichen. Vielleicht solltest du doch mal überlegen, ob du nicht wieder Sport machen willst.“

      Jessi lachte. „Tue ich doch schon. Matthias bringt mir Handball bei. Spendierst du mir auf den Schrecken ein Eis?“

      Kaum hatte Rothe wieder Platz genommen und Jessi ihr Eis in der Hand, tauschten sie sich über das Neueste in der Schule aus. Doch Rothe kannte seine Tochter. Da war noch mehr. Das Thema, um das es ihr ging, hatte sie noch nicht einmal angedeutet.

      „Jessi, du machst mich zu einem grauhaarigen Mann, wenn du mich noch länger hinhältst. Was ist so dringend, dass du mich sofort sprechen musstest? Wäre das nicht auch am Telefon gegangen?“

      „Papa, mach dir keine Gedanken, von grauen Haaren bei dir keine Spur. Und wenn schon, die Frauen fliegen auf grau meliert. Das hat Charme.“

      „Ach ja“, sagte Rothe nur und wartete ab.

      Jessi verdrehte die Augen. „Echt! Warum kannst du dich nicht einfach wie andere Väter um den Finger wickeln lassen? Immer willst du alles ganz genau wissen.“

      „Jess! Bitte! In diesem Fall weiß ich noch nicht einmal ansatzweise, worauf du hinauswillst. Und da denke ich immer, ich bin ein guter Menschenkenner, aber du stellst sämtliche Theorien, wie Sechzehnjährige ticken, auf den Kopf.“

      Sie gluckste, und sein Herz schmolz wie Jessis Eis. Kein Wunder, dass Matthias in sie verknallt war. Wer würde sich nicht in sie verlieben? Aber wo war Matthias eigentlich? Sie klebten doch neuerdings aneinander wie zwei Kaugummis.

      „Und wo steckt dein Matthias?“

      „Ich soll erst einmal die Lage sondieren. Er kommt, wenn ich ihm ein Zeichen gebe.“

      „Das hört sich geheimnisvoll an.“

      „Ist es nicht“, druckste sie auf einmal herum.

      „Mach mich nicht nervös. Sag endlich, was los ist.“ Rothe wusste nicht genau, was ihn erwartete, und so bereitete er sich auf das Schlimmste vor, das er sich momentan vorstellen konnte: Sie wollte