wurde durch Kugeln in den Oberschenkel und den Bauch lebensgefährlich verletzt. Man hat ihn nach Halensee ins Salernitana-Krankenhaus gebracht.»
«Hm …Danke.» Kappe suchte seine Gedanken zu ordnen. «Woher wissen Sie, dass der Mann auf den schönen Namen Wyschinski hört? Das ist doch hoffentlich nicht dieser berüchtigte Andrei Wyschinski?» Der hatte als Generalstaatsanwalt bei Stalins Säuberungsaktionen entscheidend mitgewirkt und war bis zum vergangenen Jahr sowjetischer Außenminister gewesen.
Kynast lachte. «Das gäbe ja was. Nee, unser Mann heißt Waschinsky, mit a vorne und y hinten. Er ist wissenschaftlicher Oberassistent an der FU, Friedrich-Meinecke-Institut. Das steht in seinen Papieren. Die Brieftasche war ihm aus dem Jackett gefallen.»
«Ah ja.» Kappe hatte noch immer die Stimme seines Bruders im Ohr: Dein letzter Fall! Den musst du noch mal so richtig genießen! Nach dem, was er eben gehört hatte, schien die Sache Waschinsky recht ungewöhnlich zu sein. Es musste schon einen sehr gewichtigen Grund geben, einen Mann aus dem akademischen Mittelbau der Freien Universität auf offener Straße zu erschießen. Und Kappe wäre kein Kind der Frontstadt West-Berlin gewesen, wenn er nicht sofort an ein politisches Motiv gedacht hätte. Hoffentlich kamen nicht die Amerikaner und rissen die Ermittlungen an sich! Immerhin gehörte der Bezirk Steglitz zu ihrem Sektor. Wollte Kappe den Anschlag auf diesen Waschinsky selbst aufklären, musste er den Eindruck vermitteln, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Beziehungstat handelte. Aber welche enttäuschte oder verlassene Frau in West-Berlin konnte schon auf eine Schusswaffe zurückgreifen?
«Sie sind so schweigsam.» Kynast sah ihn fragend an.
«Nun, nach so vielen Dienstjahren, wie ich sie auf dem Buckel habe, sucht man erst einmal sein Gedächtnis nach ähnlichen Fällen ab, um Ansatzpunkte für die Tätersuche zu finden. Haben Sie schon Zeugen auftreiben können?»
«Ja, den Mann da im Funkwagen.» Kynast zeigte auf die andere Straßenseite hinüber. «Das ist der Tischlergeselle Herbert Friemel. Leider hat er einen über den Durst getrunken, was seine Wahrnehmung etwas getrübt haben dürfte.»
Kappe war verblüfft angesichts der geschliffenen Sprache seines neuen Kollegen. Erstaunlich für einen Neuköllner! Wenn Kynast so weitermachte, landete er bestimmt noch mal im höheren Dienst. «Gut, gehen wir zu unserem Tischler hinüber, dann werden wir ja sehen, ob sich aus Friemels Beobachtungen etwas friemeln lässt.»
«Wie?» Kynast hatte dieses Verb noch nie gehört.
«Friemeln bedeutet basteln.»
Herbert Friemel schien schon wieder halbwegs nüchtern, als sie ihn befragten. «Also, ick komme von da Haltestelle inna Schloßstraße und will nach Hause. Ick wohne da hinten inne Lepsiusstraße und muss imma durch die Muthesius durch. Da kommt ’n Pkw vonna Schloßstraße her, janz langsam. Und dann wird ooch schon jeschossen. Ick hab ma lang uff’n Boden jeworfen, schließlich war ick mal bei da Infantrie. Als ick den Kopp wieda hebe, rast der Pkw los Richtung Lepsiusstraße.»
«Können Sie uns sagen, was der Wagen für eine Nummer hatte, oder wenigstens, um welche Marke es sich gehandelt hat?» Kappe holte schon hoffnungsvoll seinen Notizblock hervor, wurde aber bitter enttäuscht.
«Nee, kann ick nich, so dunkel, wie det uff da Straße hier is, bei die Funzeln alle. Und wat für ’ne Marke det war – keene Ahnung.»
Sie ließen sich die Adresse des Tischlergesellen geben und machten sich dann auf die Suche nach weiteren Zeugen. Es fanden sich jedoch keine mehr.
«Bleibt uns wohl nichts weiter, als abzuwarten», zog Kappe ein erstes Resümee. «Über die Waffe, aus der die Schüsse abgegeben worden sind, werden wir frühestens morgen etwas erfahren. Die Frage ist, ob wir noch bei den Nachbarn klingeln oder gleich ins Krankenhaus fahren. Möglicherweise ist Waschinsky schon ansprechbar. In seine Wohnung kommen wir so ohne weiteres ohnehin nicht rein.»
Kynast überlegte einen Augenblick. «Ich würde vorschlagen, es erst einmal bei seinen Nachbarn zu probieren.»
Kappe nickte. «Die liegen wahrscheinlich sowieso alle in den Fenstern und warten schon auf uns.»
In der nächsten Stunde erhielten sie ein einigermaßen detailliertes Persönlichkeitsbild des Niedergeschossenen. Am besten hatte es Waschinskys direkte Nachbarin zu formulieren gewusst, Frau Dr. Isolde Lauchstädt, Oberstudienrätin für Deutsch und Latein: «Ein sehr verschlossener Mensch, der immer darauf geachtet hat, dass er im Treppenhaus niemandem begegnet ist. Wenn es sich einmal nicht vermeiden ließ, ist er an einem vorbeigehuscht wie ein Schatten. Nun, seine Figur erinnert ja ohnehin nicht gerade an einen Jötun.»
«Einen was bitte?»
«Ein Jötun ist in der germanischen Mythologie ein Riese.»
«Ah ja, danke.»
«Wenn Herr Waschinsky zu Kongressen unterwegs war, hat er mich gelegentlich gebeten, auf seine Wohnung Obacht zu geben. Einmal, als es über ihm einen Wasserschaden gegeben hat, habe ich sie auch betreten. Dabei ist mir etwas Merkwürdiges aufgefallen: In den Bücherregalen habe ich zahlreiche historische Fachzeitschriften gesehen, und gleichzeitig hat er Karl May gelesen, also Trivialliteratur, wie sie eines Akademikers nicht würdig ist. Auf der Anrichte standen Photos seiner Frau und seiner beiden Kinder, alle im Krieg ums Leben gekommen. De profundis clamavi ad te, Domine!»
«Zu welcher Domina hat er gerufen?», fragte Kynast, der sich im Katalog des Versandhauses Beate Uhse bestens auskannte.
Frau Dr. Lauchstädt strafte ihn mit einem strengen Blick. «Ich übersetze, da Sie sicherlich kein Latinum haben: Aus Abgrundtiefen rufe ich zur dir, Herr! Was ich damit meine, liegt doch auf der Hand: Manches Sonderbare an Herrn Waschinsky, wie seine sprachliche Auffälligkeit, erklärt sich wohl aus dem Schicksalsschlag, seine Familie verloren zu haben.»
«Schön und gut», wandte Kappe ein, «aber Herr Waschinsky ist nicht der Täter, sondern das Opfer. Logik, erstes Semester.» Dies hatte er nicht ohne eine gewisse Bosheit hinzugefügt, denn die Selbstherrlichkeit der Oberstudienrätin begann ihn langsam zu ärgern. Kynast schien es ähnlich zu gehen, sonst hätte er nicht nach der Domina gefragt. Dass die Damen und Herren der höheren Schichten ihn und seine Kollegen, die «nur» Beamte des gehobenen und nicht des höheren Dienstes waren, von oben herab behandelten, hatte Kappe in seinem langen Berufsleben oft genug erfahren müssen. Menschen ohne Studienabschluss oder wenigstens Abitur waren eben minderwertig. A priori, wie Frau Dr. Lauchstädt noch hinzugefügt hätte.
Dennoch bedankten sie sich bei ihr wie bei allen anderen Nachbarn. Als sie wieder auf der Straße standen, mussten sie sich aber eingestehen, dass ihnen die Gespräche nicht den geringsten Hinweis auf den oder die Täter gebracht hatten. Keiner wusste von möglichen Feinden Waschinskys, keinem war jemand aufgefallen, der ihn beobachtet oder gar verfolgt hätte.
Kappe überlegte laut: «Und dass Waschinsky ein Zufallsopfer gewesen ist, halte ich für ziemlich ausgeschlossen. Das war mit Sicherheit eine gezielte Attacke.»
Kynast sah die Sache ebenso. «Bleibt uns nichts anderes, als mit Waschinsky zu sprechen und uns weiter in seinem Umfeld umzuhören.»
«Und wenn er inzwischen schon gestorben ist?» Kappe sah auf seine neue Armbanduhr. «Oh! Es ist Mitternacht, Doktor Schweitzer.»
«Wie?» Kynast konnte ihm nicht ganz folgen.
«Der Film, in dem Pierre Fresnay Albert Schweitzer als Missionar in Lambarene spielt», erklärte ihm Kappe.
Kynast lachte. «Aber Waschinsky liegt doch nicht in Lambarene im Krankenhaus, sondern in Halensee.»
«Trotzdem, es ist ein ganz schönes Stück von hier bis ins Salernitana-Krankenhaus.» Kappe schloss die Augen, um den Berliner Stadtplan vor sich zu haben. «Ich schätze mal, an die fünf Kilometer. Zu Fuß sind wir da eine ganze Zeit unterwegs.» Bahnen und Busse der BVG fuhren um diese Zeit nicht mehr, vielleicht noch die S-Bahn, aber das brachte ihnen auch nicht viel.
«Dann gönnen wir uns eben eine Taxe», sagte Kynast.
«Und wenn wir die im Nachhinein nicht bewilligt