mit der Reservebank!», rief der Mann im Bett gegenüber, der Fußballer Werner Eichhorn von Tasmania 1900. «Uff der hab ick so lange jesessen, bis ick mir Hämmerrieden jeholt habe.»
Ja, ja, dachte Waschinsky, von denen, die sie haben, wissen höchstens zehn Prozent, wie man sie schreibt.
Der vierte Mann im Zimmer war der Elektrohändler Helmut Haberkorn, der sich stundenlang darüber auslassen konnte, welches Fernsehgerät das beste war. «AEG-Telefunken und Metz sind nicht schlecht, der Rembrand vom Sachsenwerk ist auch in Ordnung, ebenso empfehlenswert ist die Fernsehtruhe F 2 von Graetz, aber an der Spitze liegt für mich eindeutig der WELTFUNK von Krefft aus Gevelsberg: Was heute in der Welt geschehen, kannst du im WELTFUNK abends sehen.»
«Zur Weltmeisterschaft muss ick unbedingt ’n Fernseher ham!», rief Eichhorn. «Det heißt, wenn ick bis dahin noch lebe.» Das war fraglich, denn die Ärzte fürchteten, dass sein Magenkrebs schon Tochterzellen gebildet hatte.
«Die Fußball-WM ist doch völlig unnötig», merkte Altmann an. «Die können den Ungarn auch sofort den Pokal überreichen.»
«Bloß nicht!», rief Haberkorn. «Dann kauft sich ja keiner mehr einen WELTFUNK-Apparat.»
Altmann hatte prinzipiell etwas gegen den Fußball. «Der ganze Rummel ist doch nur dazu da, um von der Politik abzulenken. Fußball ist Opium für das Volk. Anstatt diesem Globke und den anderen Obernazis, die noch in Amt und Würden sind, endlich den Prozess zu machen, haben die Deutschen nichts anderes im Kopf als ihren Fußball.»
«Besser, die Leute beten Fritz Walter an als Adolf Hitler», sagte Waschinsky. «Aber Sie haben schon recht, das ist das alte Prinzip von panem et circenses, Brot und Spiele, Brot und Spiele. Das stammt aus einer Satire des römischen Dichters Juvenal, Juvenal, der damit die Entpolitisierung des Volkes kritisiert, kritisiert. Kaiser Trajan hat besonderen Wert auf die Unterhaltung der Massen gelegt und gesagt: Populum Romanum duabus praecipue rebus, annona et spectaculis, teneri. Übersetzt bedeutet dieser Satz, dass sich das römische Volk insbesondere durch zwei Dinge in Schach halten lasse: Getreide und Schauspiele. Getreide und Schauspiele.»
«Und Wagenrennen», fügte Altmann hinzu. «Den Roman konnte ich mal auswendig: Ben Hur.»
«Wat für ’ne Hure?», fragte der Fußballer.
Daraufhin arbeitete sich Waschinsky aus dem Bett und griff nach seinen Krücken, um ein wenig über den Flur zu humpeln. Das ging schon wieder, und er war sehr glücklich darüber. Sogar Treppen konnte er steigen, auch wenn er sich dabei teilweise am Geländer hochziehen musste. Ein wenig neidvoll blickte er auf Patienten, die gerade entlassen worden waren und von ihrer Familie abgeholt wurden. Waren kleine Kinder dabei, kamen ihm die Tränen. Sah er Männer, denen es sichtbar schlechter ging als ihm, verspürte er eine gewisse Freude. Waschinsky schämte sich zwar dafür, konnte dieses Gefühl aber nicht unterdrücken. Er schob keinen Wagen mit einem angehängten Tropf vor sich her, er war kein Einbeiniger, er saß nicht im Rollstuhl und war querschnittsgelähmt. Wie leicht hätte das alles geschehen können! Hätten ihm die Ärzte eine Kugel aus dem Gehirn herausoperieren müssen, wäre er jetzt vielleicht debil.
Aber hier im Krankenhaus geschah nun sogar das, was er nicht mehr für möglich gehalten hätte: Sein Geschlechtstrieb kehrte zurück. Das mochte an den schnuckligen Krankenschwestern liegen, vor allem aber wohl an der Frau, die die Apotheke des Salernitana-Krankenhauses leitete. Ihren Namen hatte er schon herausgefunden: Stefanie Burghardt. Und um der geisttötenden Langeweile des Krankenhausalltags zu entgehen, lauerte Waschinsky öfter an der Tür der Krankenhausapotheke und folgte Stefanie Burghardt in einiger Entfernung, wenn sie ihren Arbeitsplatz verließ. Leider verlor er sie, langsam wie er war, immer schnell aus den Augen, doch das machte ihn noch gieriger. Heute fand er sie am Eingang zur Kantine, wo sie in einer Schlange stand und wartete, bis ein Tisch frei wurde. Herb war sie, richtiggehend dominant, dabei aber mit ihren langen blonden Haaren durchaus eine schöne Frau. Aber – und das hielt ihn davon ab, sie anzusprechen – sie hatte auch etwas von einer KZ-Ärztin an sich. Sie erinnerte ihn an Herta Oberheuser, die im Konzentrationslager Ravensbrück an medizinischen Experimenten mit Häftlingen beteiligt gewesen war.
Waschinsky wandte sich ab und humpelte in sein Zimmer zurück. Und er hatte Glück, seine drei Zimmernachbarn waren eingeschlafen. Um sie nicht zu wecken, ließ er davon ab, das Fenster aufzureißen, obwohl es fürchterlich stank. Eichhorn hatte wieder kräftig flatiert, aber bei seiner Erkrankung war ihm deswegen kein Vorwurf zu machen. So hielt sich Waschinsky die Nase zu, als er sich wieder ins Bett bugsiert und zu seiner Pflichtlektüre gegriffen hatte: Friedrich Meineckes Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, erschienen 1946. Eine amerikanische Fachzeitschrift hatte ihn gebeten, Meineckes inneren Zwiespalt näher zu beleuchten. Obwohl Meinecke aus persönlicher wie aus politischer Überzeugung ein strikter Gegner der Nazis gewesen war, hatte er die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und die Zerstörung des Deutschen Reiches als schmerzliche Katastrophe empfunden. Als Waschinsky mit dem Oberarzt darüber gesprochen hatte, nannte der Fußballer Eichhorn ein Beispiel aus seiner Lebenswelt, das diesen inneren Konflikt ganz gut veranschaulichte: «Ick als alta Tasmane hasse Union 06 und wünsche denen in jedet Spiel um die Berliner Meisterschaft die Pest an’n Hals, aba als sie in’a Vorrunde um die Deutsche Meisterschaft gegen den VfB Stuttgart, Borussia Dortmund und den HSV bis uff een Unentschieden imma valor’n ham, wat meinen Sie, wat ick da mit Union jelitten habe!»
Gerade überlegte Waschinsky, wie man aus diesem Gedanken auf einer abstrakten Ebene eine umfassende Theorie entwickeln könnte, da klopfte es an der Tür, und auf sein leises «Herein, ja bitte, herein!» erschienen wieder einmal diese beiden Kriminalbeamten, die ihn ausquetschen wollten. Der eine war ihm zu alt und zu sehr in seiner Routine befangen, der andere zu jung und zu forsch.
«Nun, Herr Waschinsky», begann Hermann Kappe, als beide sich neben seinem Bett niedergelassen hatten, «haben Sie sich in den letzten Tagen doch noch an etwas erinnern können, das uns weiterhelfen könnte?»
«Nein, nicht dass ich wüsste, nicht dass ich wüsste.»
«Aber jeder Mensch hat doch Feinde!», beharrte Kynast.
Waschinsky schüttelte den Kopf. «Nein, ich nicht, jedenfalls keine, die auf mich schießen würden, schießen würden.»
Kappe wollte ihm auf die Sprünge helfen. «Gibt es keinen Studenten, den Sie haben durchfallen lassen und der sich möglicherweise dafür rächen wollte?»
«Ich habe niemanden durchfallen lassen, durchfallen lassen. Man muss mich mit einem anderen verwechselt haben, verwechselt haben.»
Kynast verlor jetzt etwas die Contenance. «Herr Doktor Waschinsky, wenn Sie nicht im Krankenhaus liegen würden, könnte man fast annehmen, Sie hätten sich den Überfall nur ausgedacht.»
Nun fuhr auch Waschinsky auf. «Weil ich an diesem vokalen Tic leide, meinen Sie, dass ich ins Irrenhaus gehöre und nur spinne, nur spinne?»
Kappe wollte ihn beruhigen. «Nein, Herr Doktor Waschinsky, nein, denken Sie doch bitte so etwas nicht! Es ist nur alles sehr mysteriös für uns. Wir sind auf der Suche nach dem Täter – oder den Tätern – bis jetzt keinen Millimeter vorangekommen, und die Zeitungen und der Rundfunk hacken schon auf uns herum.»
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