ihr Zuhause gewesen. Jetzt war es nur noch irgendein Haus.
Sie dachte an nichts.
Sie ging nicht ans Telefon.
Sie rief niemanden an.
Was sie aß und trank, wusste sie nicht.
Die Post sammelte sich auf der Truhe. Die Haushaltshilfe, die einmal wöchentlich kam, bestellte sie ab. Das Haus begann zu verwildern.
Sie lebte von den Vorräten, bis sie verbraucht waren. Sie duschte und wusch sich die Haare nur noch sporadisch. Sie stand manchmal vor dem Schrank mit ihren Hüten und erschrak. Das war einmal sie selbst gewesen?
Sie nahm das Geschmeide in die Hand, die Ringe und Perlenketten, und ließ sie wieder in die samtene Box gleiten. Alles dies brauchte sie nicht mehr.
Diese Zeit war vorbei.
Irgendwann war Charlotte ergraut. Fixiert auf den Schmerz der Trennung, hätte der Tod selbst, der Menschen auseinanderreißt, nicht schlimmer sein können. Ja, seinen Tod hätte sie ertragen, aber dass sie ihn an eine andere Frau verloren hatte, das war der Grund der Verzweiflung. Sie sehnte sich nach Liebe, mehr denn je, und gerade sie wurde ihr plötzlich versagt. Sie würde ihr auch den Rest des Lebens versagt bleiben: Niemals würde es werden wie zuvor, niemanden würde sie jemals wieder lieben, es war aus mit der Liebe. So dachte sie. So fühlte sie. Das war ihre Trauer. Der Mensch kann ohne Liebe nicht hoffen. So wusste sie nicht, wie es mit ihr weitergehen sollte.
Bei den Gemälden blieb sie ab und zu stehen.
Die Farben und Formen drangen für einen Moment in ihr Inneres. Dann wanderte sie wieder weiter durch das Haus oder durch Feld und Wald, und sie spürte nichts als Unglück, während ihre Beine schwer wurden und schleppend. Zwischenzeitlich saß sie im Lehnstuhl ihres Studios.
Sie starrte auf den Ort, in dem die Menschen sie zu vermissen begannen und sich Sorgen um sie machten. Das Gerücht um die Trennung von ihrem Mann hatte längst Kreise gezogen.
Charlotte aber verharrte lange in der Trauer. Zu lange, wie sie später meinte. Trotzdem begann eine allmähliche Veränderung.
Nach Monaten, in denen sie abgemagert war, begann es ihr wieder zu schmecken, und sie bestellte sich erstmals Delikatessen, die sie mit einem Glas Wein am Abend alleine genoss. Aus dem Glas Wein wurde mit der Zeit manchmal auch eine ganze Flasche oder mehr. Doch es war trotzdem der erste Weg zu sich selbst: sie begann, die Abende unabhängig zu genießen, für sich alleine. Auch, wenn sie das rechte Maß verlor.
Sie bestellte den Friseur und ließ sich die Haare so kurz abschneiden, dass sie aussah wie eine buddhistische Nonne. Den Sinn des Lebens aber suchte sie nicht.
Sie begann auch wieder, wie früher in ihrer Jugend, rauschhaft Bücher zu verschlingen. Sie ließ sich dicke Romane aus der Buchhandlung kommen. Sie entdeckte die letzten Neuerscheinungen und las sich in fremde Kulturen und fremde Biographien ein, wie sie es noch nie zuvor getan hatte. Die Welt wurde plötzlich ein weiter Raum. Sie mied aber nach wie vor die Gesellschaft ihrer Mitmenschen und erledigte nur widerwillig die anfallende Post.
Die Scheidung war eingereicht worden. Alles ging seinen Weg. Das Trennungsjahr war längst abgelaufen, als die Formalitäten ohne ihre Anwesenheit durchgeführt wurden. Die Vermögenslage war geklärt, also konnte sie tun und lassen, was sie wollte.
***
Anfang Mai hatte er das erste Mal an ihrer Tür geklingelt. Sie hatte gezögert, ob sie öffnen solle.
Aber sie sah ihn aus ihrem Fenster mit seinem Rollstuhl dort unten vor der Haustür. Er erschien ihr erbärmlicher und hilfloser als sie selbst. Doch sie sollte sich täuschen.
Sie öffnete. Er lud sie ein. Er sähe sie häufig an seinem Haus vorbei gehen und er würde sich sehr freuen, wenn sie bei Gelegenheit mit ihm Kaffee trinken würde.
Zu dieser Zeit hatte sie schon mächtig an Gewicht zugenommen. Ihre Haare waren kurz geschoren, ihre Hüte der Reihe nach, bis auf einen einzigen, vernichtet, ihre Ringe und Perlenketten dem Juwelier überlassen, und sie frönte ihren neuen Leidenschaften, dem Lesen und den Delikatessen.
Sie zögerte. Sie war es nicht mehr gewöhnt, mit jemandem persönliche Worte auszutauschen, und sie bestand einen leisen, inneren Kampf, bis sie sich entschließen konnte. Sie sagte schließlich zu, sagte wieder ab, sagte wieder zu, bis sie dann doch eines Tages an seinem Tisch saß und mit ihm Kaffee trank. Es war mittlerweile wieder August geworden.
Er hatte Pflaumenkuchen gebacken, und sie wunderte sich, wie er im Rollstuhl sitzend so vieles bewältigen konnte, was ihr selbst nicht gelang. Sie schwieg hartnäckig und antwortete nur einsilbig auf seine Fragen.
Sie tranken den heißen Kaffee auf der Terrasse.
Diese war mit Hecken und Weinlaub zugewachsen.
Man sah sie von der Straße nicht.
Das beruhigte sie.
Sie aß von dem Pflaumenkuchen zwei Stück und sah sich in seiner Wohnung um: alles weitläufig und viel Platz. Er konnte sich überallhin bewegen. In einer Ecke ein altes Klavier. Bilder im Raum verteilt. Sie glühten in Farben und reflektierten das Licht. Sie konnte sie nicht direkt ansehen, so sehr blendeten sie ihre Augen. Das Atelier?
Sie wollte es nicht sehen.
Bücher. In den Regalen viele Bücher.
Das kam ihr im Augenblick vertrauter vor.
Und auch ein Gemälde an der Wand! Hieroglyphengleich waren Farben und Zeichen darauf verteilt. Man musste seine Geheimschrift entziffern. Sie griff fast wahllos eines der Bücher, stellte es wieder in das Regal, suchte weiter. Er reichte ihr einen dünnen Band, den sie nach Hause trug mit dem Titel: “Glut“
„Warum diesen Band?“, dachte sie. Die Glut ist in mir erloschen. Bedauerlich. Sie fühlte sich für einen Moment wieder kalt und leer.
Sie las, brachte das Buch zurück, trank wieder Kaffee bei ihm, las ein neues Buch, das er für sie bereitgelegt hatte, brachte es wieder zurück, bis sie eines Abends zusammenblieben und gemeinsam Wein tranken. An diesem Abend rollte er seinen Rollstuhl zum Klavier und begann zu spielen, eine Gefahr, die sie witterte, die sie aber ausblendete.
Doch sie spürte, das hier war ihre Welt.
Die Bücher, die Musik, die Bilder, die Farben, die Formen, das Licht. Das Glück war zurückgekommen. Was im Einzelnen passiert war, konnte niemand sagen. Charlotte B. erschien nach einer längeren Pause wieder im Ort, schön, schlank und mit Hut.
Diesmal trug sie ein neues Modell mit lila Federn, und die Menschen drehten sich wie früher bewundernd, neidisch, lästernd und anerkennend nach ihr um.
Ergraut, aber elegant, an der Seite den zwanzig Jahre jüngeren Maler Max Rendy im Rollstuhl, betrat sie das Rathaus, um das Aufgebot zu bestellen. Der Ort stand Kopf. Einige waren skeptisch, mache schüttelten den Kopf, viele beglückwünschten sie. Anschließend gab es ein Fest mit einem spektakulären Feuerwerk, das den Himmel über der Ortschaft erleuchtete. Auch Nachbarn, Freunde und Bekannte waren eingeladen.
Paula war ebenfalls dort. Sie stand allein und ein wenig frierend im Garten und sah der funkelnden, blitzenden, krachenden und Sterne sprühenden Illusion zu, die sich am Nachthimmel abspielte. Sie dachte an ihre eigene, verflossene Liebe, an die Einsamkeit und an die Zweisamkeit.
Charlotte und Max Rendy eröffneten wenig später ihre bis heute erfolgreiche Galerie, in der sie mit Fingerspitzengefühl und Fachkenntnis junge Talente entdeckte, und er sich ein Publikum für seine eigene Kunst erobern konnte.
PAULAS NEUES LEBEN
Paula lernte KA in der Galerie Rendy anlässlich einer Ausstellung kennen. Er stand mitten im Raum, umgeben von einer Schar eifriger Frauen.
Sie umschwärmten ihn wie Bienen einen Honigtopf.
KA aber konzentrierte sich auf die Begrüßung und die Laudatio, beobachtete das Geschehen um sich herum,