Die Begegnung im Botanischen Garten
Soames überbringt eine Nachricht
»... Ihr antwortet: Die Sklaven sind ja unser...«
Kaufmann von Venedig.
Erster Teil
Erstes Kapitel
Empfang beim alten Jolyon
Wer einem Familienfeste der Forsytes beiwohnen durfte, sah etwas Erfreuliches und Lehrreiches vor sich – eine Familie des besseren Mittelstandes in vollem Staat. Besaß einer dieser Begünstigten aber die Gabe psychologischer Analyse (ein Talent ohne Geldwert und den Forsytes gänzlich unbekannt), so konnte er Zeuge eines Schauspiels sein, das nicht nur an sich ergötzlich war, sondern auch zur Illustration eines dunklen menschlichen Problems diente. Mit andern Worten, die Versammlung dieser Familie – in der nicht einer Zuneigung für den andern empfand, nicht drei ihrer Mitglieder ein Gefühl kannten, das Sympathie genannt zu werden verdiente – bestätigte ihm jenen geheimnisvollen festen Zusammenhang, der eine Familie zu einem so gefährlichen Ganzen in der Gesellschaft, einem so treuen Abbild der Gesellschaft im Kleinen macht. Es zeigte sich ihm ein flüchtiger Schimmer der dunklen Pfade sozialen Fortschritts, er erhielt einen Begriff von patriarchalischem Leben, vom Nomadenleben wilder Stämme, von der Blüte und dem Verfall der Nationen. Man könnte ihn dem vergleichen, der das Wachstum eines Baumes – einem Muster von Zähigkeit und Gedeihen auf seinem isolierten Standpunkt inmitten hundert anderer absterbender Pflanzen, die weniger stämmig, saftreich und widerstandsfähig sind – von Anfang an beobachtet hat und ihn eines Tages im vollen Schmuck seines zarten Laubes, in fast verblüffender Üppigkeit, auf der Höhe seiner Entfaltung vor sich sieht.
Am fünfzehnten Juni, Ende der achtziger Jahre, gegen vier Uhr nachmittags, hätte ein zufälliger Beobachter unter den Gästen im Hause des alten Jolyon in Stanhope Gate sich von der höchsten Blütezeit der Forsytes überzeugen können.
Der Anlaß des Empfanges war die Verlobung von Miß June Forsyte, der Enkelin des alten Jolyon, mit Mr. Philip Bosinney. Im Festschmuck ihrer hellen Handschuhe, gelben Westen, Federn und Kleider war die ganze Familie anwesend – selbst Tante Ann, die nur noch selten die Ecke im grünen Wohnzimmer ihres Bruders Timothy verließ, wo sie im Schutze eines Büschels gefärbter Pampasgräser in einer hellblauen Vase, von den Bildern dreier Generationen der Forsytes umgeben, den ganzen Tag lesend und strickend saß. Selbst Tante Ann war da; mit ihrem ungebeugten Rücken und der stillen Würde ihres alten Gesichts ein Bild starren Festhaltens an der Familienidee.
Wenn ein Forsyte sich verlobte, heiratete oder geboren wurde, waren die Forsytes dabei. Wenn ein Forsyte starb – aber bis jetzt war noch kein Forsyte gestorben; sie starben nicht, der Tod widersprach ihren Grundsätzen, sie trafen Vorsichtsmaßregeln dagegen, ganz instinktiv, wie Menschen von hoher Lebenskraft, die keine Eingriffe in ihr Eigentum dulden.
Den Forsytes, die sich heute unter die Schar der Gäste mischten, war eine größere Sorgfalt in ihrer Erscheinung anzumerken, eine wachsame, inquisitorische Sicherheit, eine gediegene Solidität, als wären sie darauf gefaßt, sich gegen irgend etwas zu wehren. Der dem Gesicht von Soames Forsyte eigene schnüffelnde Zug hatte sich ihren Reihen mitgeteilt; sie waren auf ihrem Posten.
Die halb unbewußte Feindseligkeit ihrer Haltung stempelte den Empfang beim alten Jolyon zum psychologischen Moment der Familiengeschichte, machte ihn zum Vorspiel ihres Dramas.
Etwas verstimmte die Forsytes, nicht persönlich, aber als Familie; und diese Verstimmung äußerte sich in einer mehr als sorgfältig gewählten Kleidung, einem Übermaß von Familienherzlichkeit, einer übertriebenen Betonung der Familienwürde – und in jenem ›Schnüffeln‹. Was die Forsytes witterten, war Gefahr – und eine solche war kaum zu vermeiden, wenn man den Grundeigenschaften einer Gesellschaft, einer Gruppe oder eines Individuums auf die Spur kommen wollte; die Vorahnung einer Gefahr verlieh ihren Waffen Glanz. Zum ersten Mal schienen sie als Familie das Gefühl zu haben, mit einer unbekannten, unsichern Sache in Berührung zu kommen.
Am Klavier drüben stand ein beleibter, stattlicher Mann mit zwei Westen über der breiten Brust, mit zwei Westen und einer Rubinnadel anstatt einer Atlasweste und der Diamantnadel für mehr gewöhnliche Gelegenheiten, und sein glattrasiertes, breites, altes Gesicht von der Farbe blassen Leders, mit den hellen Augen über der Atlasbinde, hatte seine würdevollste Miene aufgesteckt. Dicht am Fenster, wo er mehr als genug frische Luft schöpfen konnte, schaute vornübergeneigt wie immer, sein Zwillingsbruder James versunken auf das Schauspiel vor ihm. Wie der beleibte Swithin war er über sechs Fuß hoch, aber sehr hager, als sei er von Geburt an dazu bestimmt, das Gleichgewicht herzustellen und den Durchschnitt aufrecht zu erhalten – den Dicken und den Dünnen nannte der alte Jolyon diese beiden. Seine grauen Augen hatten einen Ausdruck völliger Vertieftheit in geheime Unruhe, die nur zuweilen durch einen raschen prüfenden Blick auf die Vorgänge um ihn her unterbrochen wurde, und seine Wangen, die zwei gleichlaufende Falten und eine glattrasierte Oberlippe schmal erscheinen ließen, waren von langen Koteletts umrahmt. In den Händen drehte er einen Porzellangegenstand hin und her. Nicht weit davon, neben einer Dame in Braun, der er zuhörte, sah man blaß und gutrasiert, mit dunklem Haar, aber ziemlich kahl, das Kinn seitwärts vorgeschoben, seinen einzigen Sohn Soames, der die Nase mit dem bewußten »Schnüffeln« hob, als verschmähe er ein Ei, das für ihn unverdaulich war. Hinter ihm sein Vetter, der lange George, ein Sohn Rogers, des fünften Forsyte, mit dem durchtriebenen Blick in dem fleischigen Gesicht, über einem seiner boshaften Späße grübelnd.
Auf allen lastete ein Druck, der mit der festlichen Veranlassung in Zusammenhang stand.
In einer Reihe, dicht neben einander,