aber teilweise über Aufsätze zugänglich.
Trotzdem gibt es keine Studie über die NS-Zeit in Wien 1940–1945 – sei es nun über die Hitler-Jugend oder die »Kinderlandverschickungen« oder wie zuletzt über nationalsozialistischen Kunstraub –, in der Baldur von Schirach nicht gestreift wird. Zur »Arisierung« von Kunstwerken und der Rolle von Baldur und Henriette von Schirach gibt es eine aktuelle Vorstudie von Theresa Sepp im Rahmen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München.
Auf der Basis meiner eigenen langjährigen Arbeiten zur nationalsozialistischen Kultur- und Unkulturpolitik seit dem Buch Führertreu und gottbegnadet (1991) und jüngsten Forschungen im Zusammenhang mit der Volltext-Digitalisierung des gesamten NS-Gaupressearchivs Schirachs habe ich versucht, einen neuen kritischen Blick auf Baldur von Schirach, aber auch sein familiäres Umfeld seit der Weimarer Zeit zu werfen und die Zeit nach 1945 ebenso in den Blick zu nehmen.
Die letztlich für die Gegenwart und Zukunft zentrale Schuldfrage Baldur von Schirachs wird neu relativiert – mit bisher unbekannten Dokumenten und Erkenntnissen zum Umfang seines Wissens über die Shoa – und zwar bereits 1942 – und seine bisher nicht reflektierte Rolle bei der brutalen Verfolgung von sogenannten »Asozialen« in Wien ab 1940.
Einer der Enkel Schirachs, der ehemalige Strafverteidiger und weltbekannte Schriftsteller Ferdinand von Schirach, hat 2011 im Spiegel unmissverständlich seine Antwort gegeben:
»Das, was mein Großvater tat, ist etwas völlig anderes. Seine Verbrechen waren organisiert, sie waren systematisch, kalt und präzise. Sie wurden am Schreibtisch geplant, es gab Memoranden dazu, Besprechungen, und immer wieder traf er seine Entscheidung. Der Abtransport der Juden aus Wien sei sein Beitrag zur europäischen Kultur, sagte er damals. Nach solchen Sätzen ist jede weitere Frage, jede Psychologie überflüssig. Manchmal wird die Schuld eines Menschen so groß, dass alles andere keine Rolle mehr spielt. Natürlich, der Staat selbst war verbrecherisch, aber das entschuldigt Männer wie ihn nicht, weil sie diesen Staat erst erschufen. Mein Großvater brach nicht durch eine dünne Decke der Zivilisation, seine Entscheidungen waren kein Missgeschick, kein Zufall, keine Unachtsamkeit«.1
Zwei Menschen möchte ich besonders für ihre Unterstützung bei der Umsetzung dieses Buchprojekts danken. Herrn Dr. Johannes Sachslehner, der als erfolgreicher Zeitgeschichte-Sachbuchautor und erfahrener Lektor die Idee zu diesem Buch hatte und die Umsetzung und die Bildredaktion bis zum Finale begleitete, und Frau Mag.a Agnes Meisinger, die mit kritischem Blick Manuskript und Druckfahnen durchgesehen und korrigiert und viele wichtige Fragen gestellt hat.
Im Zuge der Recherchen haben mich viele Kolleginnen und Kollegen unterstützt, von denen ich Daniela Ebenbauer, Dr. Christoph Mentschl, Dr.in Linda Erker, Dr. Wolfgang Form, Mag.a Jutta Fuchshuber, Michael Hetz, Mag. Johann Kirchknopf, Dr. Andreas Kranebitter, Mag.a Petra Mayerhofer, Renate Moszkowicz, Univ.-Prof. Dr. Bertrand Perz, Dr. Hans Petschar, Oberstleutnant dG Dr. Markus Reisner, Univ.-Prof. Dr. Peter Roessler, Mag. Markus Stumpf, Univ.-Prof.in Sybille Steinbacher, Christine von Unruh und Univ.-Prof.in Kerstin von Lingen hervorheben möchte. Für ein wichtiges Hintergrundgespräch danke ich Rechtsanwalt i. R. Dr. Klaus von Schirach sowie Ferdinand von Schirach, der mir den Zugang zu der von ihm initiierten »Vorstudie zur Rekonstruktion des Kunst- und Kulturguts« von Baldur und Henriette von Schirach ermöglicht hat.
Ein schneidiger Gardeoffizier: Vater Carl Baily Norris von Schirach wechselte vom kaiserlichen Militär zum Hoftheater in Weimar.
1. VON BULL RUN ZUM GROSSHERZOGLICHEN HOFTHEATER
Die Familie Schirach auf dem Weg nach Weimar
Baldur von Schirach war im »Dritten Reich« allgegenwärtig. Die Jugendbewegung der »braunen Revolution« trug seine Handschrift. Er selbst sah sich tatsächlich als Revolutionär – als geschäftiger »Macher« im Braunhemd, zusammengeschweißt mit dem von ihm verehrten Adolf Hitler auf Gedeih und Verderb. Eine bemerkenswerte Blitzkarriere im Schatten des »Führers« hatte ihn an die politische Spitze gebracht: Baldur von Schirach, Jahrgang 1907, wurde 1925, im Alter von achtzehn Jahren, Mitglied der NSDAP. Seit 1927 trug er das Braunhemd der SA, der »Sturm Abteilung« der »Bewegung« im Zeichen des Hakenkreuzes. 1928 übernahm der junge Mann aus Weimar, der abseits des politischen Getriebes recht und schlecht Gedichte schrieb, das Amt des Reichsführers des NS-Studentenbundes, 1931 wurde er Reichsjugendführer, 1933 Jugendführer des Deutschen Reiches im Rang eines Staatssekretärs. Schirach gelang es, sich im inneren Kreis der Macht zu etablieren, obwohl er unter den gestandenen Parteigenossen, den »Eisenfressern« aus den Freikorps und Bierkellern, wie ein »entgleister Aristokrat«2 wirkte.
Hitler und auch Goebbels schätzten ihn lange Zeit, präsentierte Schirach den »Führer« doch so, wie man es gerne sah: »als Vater seines treuen und geliebten Volkes«.3 Hitlers Image war vor allem auch die Arbeit seines jungen Paladins Schirach. Nach kurzem Kriegsdienst an der Westfront wurde Baldur von Schirach im August 1940 von Hitler als Reichsstatthalter und Gauleiter nach Wien geschickt, blieb aber Reichsleiter der NSDAP für die Jugenderziehung und Beauftragter des Führers für die Inspektion der Hitler-Jugend sowie oberster Verantwortlicher für die NS-Jugendpolitik, auch wenn sein Stellvertreter Artur Axmann Reichsjugendführer wurde. Schirach, so das Kalkül des »Führers«, sollte die Sympathien der Wienerinnen und Wiener für sich gewinnen, er interpretierte diesen Auftrag jedoch auf sehr eigene Art und Weise: Während in den Konzertsälen und auf den Bühnen der Stadt die von ihm geförderte »Wiener Kultur« glanzvolle Erfolge feierte und er sich mit viel Aufwand in europäischer Diplomatie versuchte, rollten vom Aspangbahnhof die Todeszüge in die Vernichtungslager des Ostens und starben im Landesgericht jene Frauen und Männer auf dem Schafott, die den Widerstand gegen das NS-Terrorregime gewagt hatten. Schirach wollte zwar die blutige Arbeit der Henker nicht sehen, meinte aber verkünden zu müssen, dass die Stadt unter seiner Ägide »judenfrei« geworden wäre. Als er im Frühjahr 1945 Wien gegen die anrückende Rote Armee verteidigen sollte, zeigte sich rasch, dass er dieser Aufgabe nicht gewachsen war – »seinen« Hitlerjungen blieb es überlassen, sich den russischen Panzern entgegenzustellen. Die wenig heldenhafte Flucht aus dem umkämpften Wien führte über die Anklagebank von Nürnberg in die 20-jährige Düsterkeit und Isolation einer Gefängniszelle in Berlin-Spandau …
Ein Dreiviertelamerikaner
Betrachtet man die vorliegenden autobiografischen Quellen zu Baldur von Schirach, so sind deren Schnittmengen ebenso wichtig wie die Auslassungen und Unterschiede, die erwiesenermaßen den historischen Fakten nicht entsprechen. Ein umfassendes, von Schirach approbiertes autobiografisches Dokument ist die offizielle neun Seiten lange Selbstdarstellung anlässlich seiner Ernennung zum Reichsstatthalter und Gauleiter in Wien am 8. August 1940.4 Teilweise stimmt diese auch mit dem Datengerüst der Autobiografie Schirachs, Ich glaubte an Hitler (1967), die von zwei Journalisten als Interviewer und Ghostwriter verfasst wurde,5 überein. In dem Dokument von 1940 wurde aber kein Wort über die US-amerikanische Herkunft seiner Mutter verloren.
Sein Vater Carl Baily Norris von Schirach (1873–1948) war, bevor er in das Garde-Kürassier-Regiment in Berlin eintrat, Staatsbürger der USA gewesen. 1908 quittierte er den Dienst und wurde zum Generalintendanten des Großherzoglichen Hoftheaters in Weimar bestellt. Baldurs Urgroßvater Karl Benedikt von Schirach (1790–1864) war 1855 in die USA ausgewandert, sein Großvater Friedrich Karl von Schirach (1842–1917) brachte es bis zum Major der US-Army und heiratete die Amerikanerin Elizabeth Baily Norris (1833–1873) aus Baltimore (Maryland). Baldur von Schirachs Mutter Emma Middleton Lynah Tillou (1872–1944) stammte ebenfalls aus den USA, und zwar aus Chestnut Hill, einem Vorort von Philadelphia. In seinem tabellarischen Lebenslauf von 1940 verschwieg er auch, dass er bis zu seinem sechsten Lebensjahr in einem ausschließlich englischsprachigen Umfeld aufgewachsen war und ein Jahr später als vorgesehen in die Schule ging, um vorbereitend noch fließend Deutsch zu lernen.
1939