vorliegende Abhandlung legt den Fokus auf die Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung, insbesondere auf die allgemeine Methode des Einkommensvergleichs bei unselbstständig erwerbenden Personen. Entsprechend der im Vorwort erwähnten Frage «Fakten oder Fiktion?» stehen dabei die Fiktion des ausgeglichenen Arbeitsmarktes (Rz. 11 ff.) und die fast fiktiven Lohnniveaus lohnstatistischer Angaben (Rz. 704 ff.) im Vordergrund. Mit dieser Ausrichtung kann der vorliegende Text zwar nicht den Anspruch erheben, die Fragen um die Invaliditätsbemessung abschliessend und umfassend zu klären. Er kann aber – so hoffen wir auf jeden Fall – einen Beitrag dazu leisten, die Invaliditätsbemessung und ihre Methode ins Zentrum zu rücken, denn davon hängt der faire Zugang zu Invalidenleistungen entscheidend ab. Bevor näher darauf eingegangen wird, folgt zunächst eine knappe Einführung zur Invaliditätsbemessung (Rz. 4 ff.).
Einführung zur Invaliditätsbemessung
InvaliditätInvalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 ATSG).[2] Erwerbsunfähigkeit ist der durch Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit (vgl. auch Art. 4 Abs. 1 IVG) verursachte und nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung verbleibende ganze oder teilweise Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt (Art. 7 Abs. 1 ATSG).
InvaliditätsgradWie sich der Verlust der Erwerbsmöglichkeiten bestimmt, wird in Art. 16 ATSG geregelt (Art. 28a Abs. 1 IVG): Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades wird das Erwerbseinkommen, das die erwerbstätige Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte (sog. Invalideneinkommen), in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (sog. Valideneinkommen). Der Invaliditätsgrad berechnet sich bei erwerbstätigen Versicherten durch einen Einkommensvergleich, und zwar nach folgender Formel:
(Valideneinkommen – Invalideneinkommen) × 100 ÷ Valideneinkommen
=
Invaliditätsgrad[3]
RentenhöheAnspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung haben nur Versicherte, die einen Invaliditätsgrad von mindestens 40 % erreichen; ihnen wird eine Invalidenrente in der Höhe eines Viertels einer ganzen Rente ausgerichtet (sog. Viertelsrente; Art. 28 Abs. 2 IVG; Art. 28b Abs. 4 revIVG). Ab einem Invaliditätsgrad von 70 % wird eine ganze Rente ausgerichtet (Art. 28 Abs. 2 IVG; Art. 28b Abs. 3 revIVG). Darüber hinaus richtet die Invalidenversicherung zurzeit halbe Renten (ab IV-Grad von 50 %) und Dreiviertelsrenten (ab 60 %) aus (Art. 28 Abs. 2 IVG). Das geltende Rentensystem beruht entsprechend auf vier Stufen (Viertelsrente, halbe Rente, Dreiviertelsrente, ganze Rente).
Stufenloses RentensystemMit der Vorlage zur Weiterentwicklung der Invalidenversicherung wird ab (voraussichtlich) 1. Januar 2022 ein stufenloses Rentensystem eingeführt werden, wie es bereits aus der Unfall- und Militärversicherung bekannt ist (Art. 28b Abs. 1 IVG): Bei einem Invaliditätsgrad von 50‒69 % wird der prozentuale Anteil der Rente neu dem Invaliditätsgrad entsprechen (Art. 28b Abs. 2 IVG). Bei einem Invaliditätsgrad von 40‒50 % erhöht sich der Rentenanspruch linear von einem Anspruch von 25 % auf 50 % einer vollen IV-Rente (Art. 28b Abs. 4 IVG). In diesem Rahmen wird neu jedes Prozent IV-Grad leistungsrelevant werden, weshalb der Bund mit einer Zunahme von Leistungsstreitigkeiten rechnet.[4] Als Gegenmassnahme möchte der Bundesrat die Invaliditätsbemessung detaillierter auf Verordnungsstufe regeln (vgl. hinten Rz. 314 ff.). Für Rentenrevisionen wird neu eine Erheblichkeitsschwelle von 5 % eingeführt (Art. 17 Abs. 1 revATSG). In der Botschaft hat der Bundesrat das stufenlose Rentensystem wie folgt graphisch dargestellt:[5]
Abb. 1: Stufenloses Rentensystem mit ganzer Rente ab IV-Grad 70 %
Quelle: BBI 2017 2535, 2617
ErwerbsfähigkeitDer Einkommensvergleich nach Art. 16 ATSG beruht auf einem Vergleich zwischen zwei hypothetischen Erwerbseinkommen.[6] Wie bereits im Bericht der Expertenkommission zur Invalidenversicherung festgehalten wurde, zeigt sich dabei, «dass das, was als Verdienst vor (bzw. ohne) und nach Invalidierung gelten soll, keineswegs eindeutig feststeht.»[7] Auf den tatsächlichen Erwerbsausfall kann schon deswegen nicht ohne Weiteres abgestellt werden, da in der Invalidenversicherung die Erwerbsfähigkeit und nicht der Erwerb als solcher versichert ist (Art. 7 ATSG).[8] Die Leitfrage lautet daher: «Besitzt der Versicherte noch mindestens x Prozent der Erwerbsfähigkeit, die er ohne Eintritt des schädigenden Ereignisses gehabt hätte?»[9]
Normative SchadenermittlungDie Invaliditätsbemessung ist alles andere als eine reine Rechenoperation: Die Bemessung stellt zum einen eine individuell-konkrete Schadenermittlung dar, weil die objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalles zu beachten sind; zum anderen handelt es sich um eine normative Schadenermittlung, da nur die invalidenrechtlich relevante Erwerbseinbusse massgebend ist.[10] Die Methode der Invaliditätsbemessung ist mitbestimmend für den Invaliditätsbegriff als solchen.[11] Der Invaliditätsbegriff wird entscheidend geprägt durch die Auslegung offen gehaltener Rechtsbegriffe wie «zumutbare Tätigkeit» oder «ausgeglichener Arbeitsmarkt».
Objektive KriterienGemäss ständiger Rechtsprechung zu Art. 16 ATSG ist der Invaliditätsgrad «so konkret wie möglich» zu bestimmen und wird nicht etwa medizinisch-theoretisch festgelegt:[12] «Der Invaliditätsbegriff, verstanden als Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit, verlangt, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen wirklichkeitsnah und individuell bestimmt werden.»[13] Dabei bestimmt sich das Mass der Erwerbsunfähigkeit nach objektiven Kriterien und damit nach der Erwerbseinbusse, welche die versicherte Person auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt bei zumutbarer Verwertung ihrer verbleibenden Arbeitsfähigkeit erleidet (Art. 16 ATSG).[14] Gesundheitliche wie erwerbliche Abklärungen zur Erwerbsunfähigkeit «gipfeln eigentlich in der Frage, welche Art von Arbeit dem Versicherten zumutbar sei».[15] Das Kriterium des ausgeglichenen Arbeitsmarktes weist darauf hin, dass der Verdienst, den eine versicherte Person mit ihrer Arbeit in einem zufälligen Zeitpunkt tatsächlich erzielt, grundsätzlich kein genügendes Kriterium für die Bestimmung der Erwerbsunfähigkeit darstellt: «Ausschlaggebend ist der dem Zustand des Versicherten entsprechende objektive Durchschnittsverdienst, während der tatsächliche Verdienst möglicherweise nur vorübergehend ist; würde auf ihn allein abgestellt, so könnte je nach seiner Höhe eine dauernde Begünstigung oder Benachteiligung des Versicherten eintreten».[16]
1 Vgl. die Hinweise bei Egli, passim. ↵
2 Der Invaliditätsbegriff enthält im Kern ein medizinisches und ein wirtschaftliches Element, nämlich den Gesundheitsschaden einerseits und die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit andererseits, siehe dazu Bühler, S. 261. ↵
3 KSIH, Rz. 3076. ↵
4 BBl 2017 2535, 2617. ↵
5 BBl 2017 2535, 2617. ↵
6 EVGE 1960, S. 249 E. 1. ↵
7 Bericht Expertenkommission 1956, S. 121. ↵
8 Bericht