Expertenkommission 1956, S. 121. ↵
10 Siki, S. 147. ↵
11 Hürzeler, Rz. 388. ↵
12 Dazu Meyer/Reichmuth Art. 28a N 48, 89 mit Hinweis auf u.a. BGE 135 V 297 E. 5.2; siehe auch BGE 143 V 295 E. 2.2. ↵
13 Rüedi, Invalidität, S. VII/1 ff., 10, Hervorhebung beigefügt; Omlin, S. 108; siehe auch SGVR, S. 1 ff., mit der Empfehlung, «den Begriff der Erwerbsunfähigkeit konkret und individuell anzuwenden, d.h. im Einzelfall zu prüfen, wie sich die medizinische Invalidität wirtschaftlich für die betreffende Person auswirkt.» (Hervorhebung im Original); Pfluger, S. 54 f.; kritisch jüngst Geertsen, Gedanken, S. 165 ff.; Riemer-Kafka, S. 24. ↵
14 EVGE 1960, S. 249 E. 1. ↵
15 Piccard 1957, S. 123 (Hervorhebung im Original); Meyer/Reichmuth, Art. 28a N 26. ↵
16 EVGE 1960, S. 249 E. 1. ↵
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Fiktion des «ausgeglichenen Arbeitsmarkts»
Einleitung
KritikAn Kritik am Begriff des «ausgeglichenen Arbeitsmarkt» fehlte es nie. Nicht selten fällt diese Kritik mehr oder weniger zugespitzt aus: «‹Wenn man jetzt ganz boshaft wäre›, erläutert der Leiter eines Regionalärztlichen Dienstes dieses Prinzip [des ausgeglichenen Arbeitsmarktes], ‹könnte man sagen, es gibt den Beruf eines Matratzentesters und eines Museumswärters. Beim einen kannst du den ganzen Tag liegen, beim anderen kannst du sitzen, stehen, laufen, reden, ruhig sein, wie du willst. Jeder, der sich bewegen kann, kann das machen.›»[1] Was hat es mit dieser Kritik auf sich? Werden in der IV tatsächlich Jobprofile fingiert, die in der Realität nicht («Matratzentester») oder allenfalls im Museum («Museumwärter») anzutreffen sind – und, wenn ja, mit welcher Begründung?
EigenheitIm internationalen Vergleich wurde der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» auch schon als «sehr ungewöhnliches Konzept» bezeichnet.[2] Dieses Konzept soll nach Christopher Prinz «einen Ausweg zwischen konkreter und abstrakter Arbeitsmarktbetrachtung (wonach der konkrete Arbeitsmarkt entweder ausschlaggebend oder irrelevant ist) darstellen (…) Die Orientierung an einem fiktiven ausgeglichenen Arbeitsmarkt soll bewirken, dass ein und dieselbe Situation bei unterschiedlicher Wirtschaftslage – also auch bei einer Krise oder einer Hochkonjunkturphase – zur gleichen Beurteilung (Zuspruch einer Invalidenrente ja oder nein) führt. In der Praxis ist diese Regelung aber nur schwer einheitlich umzusetzen.»[3]
ArbeitsmarktbetrachtungDamit sind die Grundprobleme der Figur des ausgeglichenen Arbeitsmarktes bereits gut umrissen: Eine allzu konkrete Arbeitsmarktbetrachtung kann dazu führen, das Arbeitsmarktrisiko über die Invalidität abzudecken und eine Art von «Arbeitsmarktrenten» auszurichten, womit die Grenze zwischen Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit bzw. zwischen Invalidität und Arbeitslosigkeit verwischt würde. Dagegen birgt eine allzu abstrakte Arbeitsmarktbetrachtung das Risiko, die Verwertbarkeit eines medizinisch-theoretisch vorhandenen Erwerbspotenzials zu fingieren und sich damit von den realen Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt völlig zu lösen. Letzteres kann zu Härtefällen führen, in denen der Verweis auf die Arbeitslosenversicherung problematisch bzw. illusorisch wird.
Aus- und MittelwegAus diesem Dilemma (konkrete Betrachtung und Übernutzung des Systems versus abstrakte Betrachtung und Härtefälle) verspricht der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» einen Ausweg.[4] Er zeichnet sich letztlich durch zwei Merkmale aus: Der Arbeitsmarkt muss a) für die versicherte Person in Betracht kommen und b) ausgeglichen sein.[5] Mit anderen Worten: Der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» ist ein «theoretischer durchschnittlicher Arbeitsmarkt» und damit «ein Mittelweg zwischen dem gegenwärtigen konkreten Arbeitsmarkt und dem völligen Wegdefinieren des Arbeitsmarktes».[6]
VagheitDer Reiz dieses pragmatischen «Mittelwegs» – eine um zufällige Arbeitsmarktschwankungen bereinigte Bemessung der Erwerbsunfähigkeit einer konkreten versicherten Person – geht mit einer grossen Vagheit einher. Die Akzente auf der Achse zwischen Realität (konkreter Arbeitsmarkt) und Fiktion (abstrakter Arbeitsmarkt) lassen sich verschieden setzen. Es lohnt sich daher, die Begriffsgeschichte des ausgeglichenen Arbeitsmarktes nachzuzeichnen, um besser zu verstehen, was damit gemeint ist.
Vor Inkrafttreten des IVG
UrsprungDas Problem der Abgrenzung von Erwerbsfähigkeit und Erwerbsmöglichkeit bzw. von Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit ist «seit je» ein ständiger Begleiter staatlicher Invalidenversicherungen.[7] Vor Inkrafttreten des IVG sahen weder das damals geltende KUVG noch das alte MVG bei der Invaliditätsbemessung die Berücksichtigung der ausgeglichenen Arbeitsmarktlage ausdrücklich vor.[8] Erste Hinweise sind aber in der Rechtsprechung zur damaligen Unfallversicherung zu finden. Wegweisend für den (heute geltenden) ausgeglichenen Arbeitsmarkt waren das Urteil Accola gegen Suva vom 15. Dezember 1936 und insbesondere das Urteil Arfini gegen Suva vom 20. Dezember 1940. Nach diesen Urteilen ist bei der Invaliditätsbemessung in der Unfallversicherung auf «durchschnittliche Verhältnisse» bzw. auf eine bereinigte Konjunkturlage abzustellen. Dazu im Einzelnen:
Urteil
AccolaIm Urteil Accola gegen Suva vom 15. Dezember 1936 erwog das EVG, zur Ermittlung der Erwerbsunfähigkeit eines Versicherten sei abzustellen auf das Verhältnis zwischen dem, was der Versicherte ohne Unfall hätte erwerben können, und dem, was er, mit den Unfallfolgen behaftet, auf dem Arbeitsmarkt voraussichtlich erwerben kann.[9] Da der Versicherte im Urteil Accola zur Zeit des Unfalls in einem anderen Beruf als seinem erlernten arbeitete, verwies das EVG darauf, dass zwar eine Vermutung bestehe, dass die letzte Tätigkeit eines Versicherten auch die zukünftige gewesen wäre. Diese Vermutung könne aber «leicht entfallen, wenn sich ergiebt, dass der Versicherte eigentlich einen andern Beruf hatte und diesen nur unter dem Zwang der Verhältnisse, wie Wirtschaftskrise u. dgl., vorübergehend verlassen hat».[10] Damit löste sich das EVG zur Ermittlung des Valideneinkommens von den aktuellen konjunkturellen Verhältnissen.[11]
Interdisziplinäre AbklärungEbenfalls bereits im Urteil Accola hielt das EVG fest, «die Ermittlung des Invaliditätsgrades [darf] sich keineswegs in einer Vergleichung des gegebenen anatomisch-funktionellen Zustandes mit dem Zustand der Unversehrtheit, bzw. mit einem Durchschnittstypus berufliche Anforderungen, erschöpfen (…) Weil aber eben noch die speziellen für den Verletzten in Betracht fallenden beruflichen Bedingungen zu berücksichtigen sind, kann – was übrigens ebenfalls schon oft betont wurde – die Invaliditätsschätzung nicht allein Sache des Mediziners sein».[12]
Urteil ArfiniIm Urteil Arfini gegen Suva vom 20. Dezember 1940 nahm das EVG die Erwägungen des Urteils Accola auf und führte zum Valideneinkommen aus, es sei «naturgemäss» auf den Beruf des Versicherten abzustellen. «Als mutmasslicher Ertrag dieses Berufes hat dessen durchschnittliche, d.h. von momentanen Zufälligkeiten (wie z.B. Betriebseinstellung oder -einschränkung, oder umgekehrt Hochkonjunktur), unabhängige Entlöhnung zu gelten.»[13] Zum Invalideneinkommen erwog das EVG, der Versicherte müsse sich diejenige Art der Erwerbsbetätigung anrechnen lassen, welche seinem verwertbaren Können entspreche und womit er auf dem Arbeitsmarkt normalerweise am meisten verdiene: Massgebend sei nicht, was für Arbeit oder wie viel Arbeit der Versicherte noch leiste, sondern wie viel, im Verhältnis zu früher, dadurch