verhindern konnten. Es war wie das Warten auf einen nahenden Sturm. Man sah schon von Weitem, wie er den Himmel vereinnahmte, spürte, wie die Luft abkühlte und der Wind zunahm. Man konnte sich nur in Sicherheit bringen und warten, bis alles vorbei war.
Doch dieser Sturm war anders. Er konnte jeden erfassen, und es gab keinen Schutz vor ihm. Kein Dach bewahrte einen vor dem prasselnden Regen, und keine Mauer konnte den Wind abhalten. Die Menschen waren gefangen in ihrer Hilflosigkeit, dazu verdammt, abzuwarten, während andere über ihr Leben entschieden. Selbst der Klügste unter ihnen konnte sie aus dieser Lage nicht herausreden und selbst der Stärkste den Feind nicht niederknüppeln.
So warteten die Bürger von Reheim darauf, dass die Nacht verging. Ihre Gedanken kreisten um die Schrecken, die man ihnen antun würde, um die Fehler, derer sie sich schuldig gemacht hatten, und die Sünden, welche sie begangen hatten. Sie lagen in ihren Betten und flehten zum Herrn um Vergebung. Ihre Versprechungen wurden mit jeder Stunde größer. Sie beteten, dass das Auge der Inquisition sie nicht beachten und dieser Albtraum ein Ende nehmen würde.
Es war eine Nacht, in der jeder Bürger von Reheim insgeheim Verrat beging. An den Freunden, die er für seine Unversehrtheit opfern würde, und an den Nachbarn, deren Blut er vergießen würde, nur um nicht selbst in die Fänge der Inquisition zu geraten. Es dauerte nur wenige dunkle Stunden, bis die Bewohner von Reheim ihre Gemeinschaft aufgaben.
Pater Baselius hatte sich zum kleinen Gefängnis des Dorfes bringen lassen. Die Zellen rochen vermodert. Er hörte Ratten umherhuschen. Seine Schritte hallten laut. Als ihm die Tür geöffnet wurde, quietschten die Angeln. Dann drehte er sich zu Thomas um, der ihn hierher geführt hatte.
»Ich gehe davon aus, dass diese Räume hergerichtet werden. Die Zellen müssen sicher sein. Alle Schlüssel müssen uns übergeben werden. Einzig unsere Soldaten dürfen das Gebäude bewachen. Niemand darf sich ohne unsere ausdrückliche Erlaubnis dem Gefängnis nähern. Es ist jedem verboten, mit den Gefangenen zu reden.«
»Sehr wohl«, sagte Thomas und führte Baselius weiter.
Der ältere Mann ging langsam. Der Boden war uneben und glitschig von der Feuchtigkeit, die sich in langen Jahren hier gesammelt hatte. Eine Tür knarrte, und Thomas sagte: »Wir sind da.«
Pater Baselius hätte auch ohne seinen Helfer gewusst, wo sie waren. Er roch die Angst, die Menschen unter der Folter ausdünsteten. Es stank nach Schweiß und Exkrementen. Das Klirren von Ketten zeigte ihm, dass die Frau schon aufgehängt war. Normalerweise begannen die Ketzer schon bei seinem Anblick, um Gnade zu flehen, aber die Gefangene schwieg. Baselius nickte ein wenig mit dem Kopf. Dieser Fall schien etwas hartnäckiger zu sein.
»Schließt die Tür«, sagte er und trat in den Raum hinein. »Wir haben eine lange Nacht vor uns.«
2
Agnes
Die Glocken der Kirchen läuteten die Zusammenkunft ein. Alle Bürger waren gekommen und strömten in den großen Versammlungssaal. Der Saal war oft Ort hitziger Diskussionen gewesen, als über die Verteilung von Weiderechten und Wegzöllen diskutiert worden war, aber jetzt feierte man hier ausgelassene Feste, beging Hochzeiten oder hob das Glas auf die Geburt eines neuen Stammhalters.
Klara hatte nur gute Erinnerungen an diesen Saal, doch als sie mit ihrem Onkel in den düsteren Raum hineinging, schien jede Freude aus ihm gewichen zu sein. Die beiden Dominikanerpriester saßen auf ihren Stühlen und musterten die einströmende Menge. Auch wenn der alte Priester blind war, so war sein trüber Blick starr auf den Gang gerichtet, als könnte er die Menschen sehen.
Die Kamine im Raum waren aus, nur spärliches Kerzenlicht erhellte den Saal. Die Angst der Bewohner war fast mit Händen zu greifen. Niemand sprach ein Wort. Alle blickten zu Boden, und selbst die Kinder schienen sich des Ernstes dieser Versammlung bewusst zu sein. Sie redeten nicht, tollten nicht umher und ließen sich zu keinerlei Streichen anstiften.
Die Bänke waren voll besetzt, als Pater Baselius aufstand. Klara biss sich nervös auf die Lippe. Sie redete nicht schlecht über Gott, ging jeden Sonntag in die Kirche und betete morgens und vor dem Schlafengehen.
Noch vor ein paar Tagen hatte sie mit Agnes über Recht und Unrecht gesprochen. Es war um die Bestrafung eines Viehhirten gegangen, der seine Tiere auf einer ungenutzten Wiese seines Nachbarn hatte grasen lassen. Wie immer hatte Agnes zu keiner Zeit gesagt, »das war richtig« oder »das war falsch«. Sie hatte von Klara verlangt, selbst zu beurteilen, was in einem solchen Fall zu tun war. Als Klara dann die Entscheidung getroffen hatte, dass es nicht anstößig war, seine Tiere auf eine brachliegende Wiese zu treiben, auch wenn sie einem nicht gehörte, hatte Agnes nur zufrieden genickt. Ihre Meinung dazu hatte sie wie immer für sich behalten.
Es gab keinen Grund für Klara, ein schlechtes Gewissen zu haben, das war ihr bewusst, und doch konnte sie den Dominikanern nicht in die Augen sehen, sondern senkte eingeschüchtert den Blick. Vielleicht lag es an der Macht über Leben und Tod, die die Männer innehatten. Möglicherweise war es auch die Angst, die durch die unzähligen grausigen Geschichten von der Inquisition geschürt worden war.
Ihre Hand umfasste das silberne Kreuz, eines der wenigen Schmuckstücke, die ihr noch von ihrer Mutter geblieben waren. Sie schloss die Augen und dachte an ihr sanftes Lächeln. Immer wenn sie sich fürchtete, war ihre Mutter in ihr Zimmer gekommen, hatte sie in die Arme geschlossen und ihr sanft über den Rücken gestrichen. Dann waren die Schreckgespenster aus den Albträumen verschwunden, das Gewitter nicht mehr so bedrohlich erschienen und die bösen Kreaturen vor ihrem Fenster geflohen.
Die kratzige Stimme des älteren Priesters riss sie aus ihren Erinnerungen. »Da wir, Pater Baselius und Pater Thomas vom heiligen Orden der Dominikaner, mit all unserer Kraft dafür kämpfen, dass das christliche Volk und der katholische Glaube geschützt und von allem ketzerischen Ungemach ferngehalten werde, haben wir diesen Prozess einberufen. Dies geschehe zum Ruhm und zur Ehre des verehrungswürdigen Namens Jesu Christi und zur Vernichtung der Häresie und des Hexentums hier in Reheim.«
Pater Baselius machte eine kurze Pause. »Man hat uns von ketzerischen Handlungen berichtet, von Schaden an Mensch und Tier, von Hexerei und dem Verkehr mit Dämonen. Jeder, der die heilige Inquisition in ihrer Arbeit behindert, soll vom Stab der Exkommunikation niedergestreckt werden. Jede Enthüllung, die einen Ketzer überführt, wird mit Absolution der Sünden vergolten.«
Der Dominikaner setzte sich wieder und winkte einem seiner Soldaten. »Man bringe die Gefangene.«
Die Menge im Versammlungssaal wurde unruhig. Klara blickte sich um und versuchte festzustellen, ob alle Bürger gekommen waren, wer fehlte. Von ihrer Bank aus hatte sie schlechte Sicht, daher wollte sie sich erheben, aber ihr Onkel fasste sie am Arm und zog sie auf ihren Platz. Sein ernster, warnender Blick ließ keinen Widerspruch zu, und so setzte sie sich.
Aus dem hinteren Teil des Saals hörte man das Klirren von Ketten. Die Soldaten führten eine kleine Gestalt hinein. Sie zog ihr rechtes Bein ein wenig nach. Ihr Kopf wurde von einem Sack verborgen, und ihr hagerer Körper war von einer alten, zerrissenen Kutte bedeckt. Klara versuchte zu erkennen, wer es war.
Die Frau wurde nach vorne gebracht, sodass sie von jedem Besucher gesehen werden konnte. Auf einen Wink von Pater Baselius zogen die Soldaten der Gefangenen den Sack vom Kopf und rissen ihr das Gewand vom Leib.
Klara erblickte Agnes. Die Haare waren ihr vom Kopf geschoren worden. Ihr linkes Auge war geschwollen und ihre Nase offenbar gebrochen. Ihr Körper war von Peitschenhieben verunziert, und ihr linker Arm hing in einem grotesken Winkel schräg von ihrer Schulter weg. Der kleine Finger ihrer linken Hand war nur noch ein Stumpf, und auf ihrer Brust waren mehrere Brandwunden.
Klara übergab sich auf den Boden. Der Saal war in Aufruhr. Mütter bedeckten ihren Kindern die Augen, Frauen fingen an zu weinen, und selbst die stärksten Männer wandten sich von diesem Anblick ab.
Agnes stand zitternd in der Mitte des Saals und konnte sich vor Schwäche kaum auf den Beinen halten. Ihr Blick war starr zu Boden gerichtet.
»Bedeckt sie«, sagte Pater Thomas. Die Soldaten warfen ihr das Gewand über die Schulter, das ihre Blöße