Otto Sindram

Gesang der Lerchen


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ein wenig Platz. Er stapelte sein Gepäck, so dass er darauf sitzen und sich etwas ausruhen konnte. Dann aß er von dem Kuchen, den die Mutter ihm mitgegeben hatte.

      »Sie sind aus dem Westen, das sieht man gleich«, sagte die alte Frau, »einen so schönen Kuchen gibt es bei uns nicht.«

      Philipp gab ihr ein Stück und bat sie, einen Moment auf seine Sachen zu achten. Im Toilettenraum trank er Leitungswasser, und erst als sein Durst gestillt war, merkte er, dass es faulig und stark nach Chlor schmeckte.

      In der Nacht fand er keine Ruhe. Das Schnarchen der alten Frau störte ihn; sie schlief mit offenem Mund und zeigte dabei ihr fehlerhaftes Gebiss. Menschen gingen im Saal hin und her und stiegen über die Schlafenden.

      Philipp musste an die Tränen der Mutter denken und an den Vater. Jetzt war ihr Sohn also ein Russe. Er dachte an Eva, an ihre Russenangst und ihre falschen Küsse. Immerhin hatte sie einen »Russen« geküsst. Er musste schmunzeln.

      Noch vor Morgengrauen nahm er sein Gepäck und ging auf den Bahnsteig. Die kühle, frische Luft des frühen Tages war angenehm. Er atmete einige Male tief durch. Im Osten sah er, wie die Wolken sich röteten und die bald aufgehende Sonne ankündigten.

      Am frühen Nachmittag fuhr der Zug durch die Vororte Berlins. Berlin! Philipp hatte in den drei Jahren nach dem Kriege vieles über diese Stadt gehört und gelesen. Jetzt sollte er sie selber kennen lernen, ja sogar darin wohnen. Der Zug fuhr über Wannsee, Grunewald und Charlottenburg. Philipp sah die vielen Spuren des Krieges: zerstörte Häuser und Straßen voller Schutt. Aber das kannte er schon aus dem Ruhrgebiet. Ihn beeindruckte mehr die Größe der Stadt und das viele Grün, das trotz der Kriegsschäden und der fortgeschrittenen Jahreszeit in allen Stadtteilen noch zu sehen war.

      Im Bahnhof Zoologischer Garten endete die Fahrt. Philipp musste umsteigen in die S-Bahn, um nach Ostberlin zu kommen. Er stellte seine Koffer und den Sack auf der Plattform des Wagens in eine Ecke und suchte sich einen Platz, von dem aus er das Gepäck noch sehen konnte. So kurz vor dem Ziel wollte er kein Risiko mehr eingehen.

      Die Bahn fuhr an und hielt wieder an der Station Tiergarten. Der Wagen füllte sich schnell mit Menschen. Das ist wohl schon der frühe Feierabendverkehr, dachte Philipp und staunte über den schnellen Aus- und Einstieg der Fahrgäste und über die Türautomatik. Auf dem Bahnsteig mit dem fremdklingenden Namen Bellevue sah er plötzlich einen Mann mit seinem Federbett stehen. Der Mann musste den Sack beim Aussteigen mitgenommen haben. Philipp sprang auf, drängte sich durch die Zugestiegenen, war mit einem Satz draußen, entriss dem Mann den Jutesack, hörte im Lautsprecher die befehlende Stimme »Zurückbleiben!« rufen, sprang mit dem Sack zurück in den Wagen, die Türen schlugen zu und der Zug fuhr an. Durch das Glas der Wagentür sah er noch das fassungslose Gesicht des »Diebes«, dann war der Mann mitsamt der Station verschwunden.

      Philipp atmete auf, bahnte sich einen Weg zu der Ecke, um den Sack an seinen Platz zurückzustellen. Aber da stand schon einer. Erst jetzt bemerkte er, dass der »gerettete« Sack kleiner war und auch schwerer. Er schämte sich und war ratlos. Vorsichtig versuchte er in den Gesichtern der anderen Fahrgäste zu ergründen, was sie von seiner Aktion mitbekommen hatten. Aber alle schauten teilnahmslos vor sich hin. Da versuchte er auch ein teilnahmsloses Gesicht aufzusetzen. Am Bahnhof Friedrichstraße ließ er einfach den zweiten Sack stehen, stieg aus und fragte nach dem Weg zur Universität.

      Vom Büro der Fakultät bekam Philipp ein Zimmer im 5. Stock eines Wohnblocks im Bezirk Prenzlauer Berg zugewiesen. Das Mauerwerk an der Außenfront war stark beschädigt. Philipp sah die Spuren der Bombensplitter und der Granateneinschläge. Die Wirtsleute, ein Rentnerehepaar, kamen sofort nach dem Einzug in sein Zimmer, um ihm ihre Verhaltensmaßregeln mitzuteilen. Vor allem dürfe er keine Mädchen mit aufs Zimmer nehmen. Wenn er später mal eine Verlobte haben sollte, na ja, aber auch dann nur bis zehn Uhr abends. Aus Duisburg sei er also, von so weit her. Da müsse er der Mutter aber fleißig schreiben, denn die mache sich sicher große Sorgen. Was denn der Vater mache.

      »Der macht sich auch Sorgen«, sagte Philipp.

      Nein nein, was er arbeite.

      »Er arbeitet in einer Kohlengrube; mein Vater ist Bergarbeiter.«

      Die Gesichter wurden reservierter. So so, und da konnte er es sich leisten, seinen Sohn studieren zu lassen? Philipp erklärte ihnen, dass es mit dem Studieren noch eine Weile hin sei, erst müsse er in zwei Jahren Schule das Abitur nachholen.

      »Und in der Zeit bekomme ich ein Stipendium.«

      »Ach ja! Die Zeiten haben sich geändert«, sagte der Zimmerwirt und seufzte, »viel zu schnell, es geht alles viel zu schnell!« Er erzählte von seiner Zeit als Postbeamter, und wie lange es gedauert habe, bis er von dem anstrengenden Außendienst in den Innendienst gekommen sei. »Und im Krieg, kurz vor der Pensionierung, musste ich dann doch wieder Außendienst machen.«

      Philipp beobachtete während der Zeit einen kleinen, braunen, linsenförmigen Käfer, der über den Tisch gekrochen kam, in einem Sonnenflecken auf der Tischplatte anhielt und sich dort sonnte. Mit einem Fingerschnipser wollte er gerade den Käfer vom Tisch befördern, da schrie der Wirt auf.

      »Halt! Eine Wanze, oh Gott, eine Wanze!« Mit einem Satz war er aus dem Zimmer und sofort wieder zurück mit einer gefüllten Handspritze, sprühte eine übel riechende Flüssigkeit auf den Tisch, auf alle weiteren Möbel und Gegenstände in dem Zimmer, auf Philipp, und besonders auf das Federbett. »Da bringt uns dieser Mensch Wanzen in die Wohnung!«, sagte er mehrere Male und pumpte und pumpte.

      Philipp war erschrocken, fühlte sich schuldig und ließ alles über sich ergehen.

      »Wo bist du untergekommen?«, fragte später Christian leise im Unterricht.

      Philipp antwortete ebenso flüsternd, dass er ein Zimmer im Bezirk Prenzlauer Berg vermittelt bekommen habe.

      »Was, in dieser verwanzten Gegend wohnst du!?« Da musste Philipp laut lachen. »Was ist so komisch an Wanzen?«, wollte Christian wissen und lachte auch.

      »Die Herren dort finden den Unterricht wohl recht amüsant. Hoffen wir, meine Herren, dass es so bleibt, für Unterhaltung werde ich schon sorgen«, meldete sich der Physiklehrer Seiter von der Tafel.

      Die Ertappten verfolgten eine Minute aufmerksam, was sich dort vorne tat. Dann flüsterte Philipp weiter.

      »Ich bin frisch eingesprüht worden und wanzenfrei.«

      »Daher stinkst du so, und ich dachte schon, das ist dein Ruhrpottmief.«

      »Da musst du erst einmal den Duft von meinem Federbett kennen lernen.«

      Nach dem langen Unterrichtstag benutzte Philipp die U-Bahn von der Station Unter den Linden bis Alexanderplatz und von dort die Straßenbahn 74, die über Prenzlauer Berg nach Weißensee fuhr. In den meisten Fensterrahmen der Bahn war das fehlende Glas durch klappernde Blechplatten ersetzt worden.

      Philipp fand es doof, dass er während der Fahrt nicht hinausschauen konnte. Da tippte ihm jemand auf die Schulter. Sophie saß hinter ihm und schrie gegen die lärmenden Blechplatten an.

      »Bist du bis Alex gefahren?«

      »Ja«, schrie er zurück, »mit der U-Bahn.«

      »Zu Fuß ist es genauso schnell.«

      Am nächsten Morgen gingen sie gemeinsam vom Alex quer durch den Lustgarten zur VA und am Nachmittag gemeinsam zurück. Sie sahen die Trümmer zu beiden Seiten der Straßen und dahinter die Ruinen, und sie trafen Frauen mit Kopftüchern beim Steineklopfen. Männer führen Kriege, Frauen räumen auf, dachte Philipp. Ihn bewegte jetzt doch das Ausmaß der Zerstörung, während Sophie davon weniger beeindruckt schien und über Westdeutschland sprechen wollte.

      »Wie ist die revolutionäre Situation im Ruhrgebiet?«, fragte sie.

      Philipp verstand nicht.

      »Aber du bist doch aus einer Proletarierfamilie.«

      Er