war eine Hochzeit nach dem Wunsch der Brautmutter: die Braut ganz in Weiß und der Bräutigam in seiner Gala-Uniform. Unter den Gästen überwogen die deutschen Offiziere, wenn auch die wenigen polnischen schon wegen der verbreiteten Unkenntnis über deren Uniformen bei den Damen mehr Aufmerksamkeit fanden. Nur Romans Eltern konnten nicht an der Hochzeitsfeier teilnehmen. Beide bedauerten das aufrichtig, aber sie seien krank, wie der Bräutigam sagte.
In der ersten Zeit wohnte das junge Paar mit Zustimmung der polnischen Botschaft im Hause der Brauteltern. Man wollte gemeinsam und in Ruhe eine standesgemäße Wohnung in der Nähe suchen. Dazu kam es aber nicht mehr. Roman erhielt noch in den Flitterwochen einen Befehl, sich umgehend bei dem Standortkommando in Krakau zu melden. Seinen Posten in der Berliner Botschaft erhielt ein anderer.
Maria und ihre Eltern waren sehr besorgt. Was war geschehen? Marschall Pilsudski war als Ministerpräsident zurückgetreten, blieb aber Kriegsminister und wollte mit Hilfe der Armee weiter Ordnung in Polen schaffen. Dafür brauchte er alle ihm ergebenen Offiziere vor Ort.
Roman nahm tränenreichen Abschied von seiner Frau und seinen Schwiegereltern. Sie wussten nicht, wie lange die Trennung dauern würde. Kaum aber hatte der frischgebackene Ehemann in Krakau seine Arbeit in der Kommandantur aufgenommen, besorgte er eine vorläufige Wohnung und ließ Maria nachkommen. Noch vor Wintereinbruch gebar sie einen gesunden Sohn; sie nannten ihn Christian.
Polen hatte einen neuen Bürger, bis seine Mutter − nun schon Witwe − unter deutscher Besatzung einen Antrag stellte, der da lautete: Antrag auf Wiedereindeutschung verloren gegangenen deutschen Blutes. Dem Antrag wurde stattgegeben.
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Immer wenn eine spontane Demonstration der Berliner Bevölkerung benötigt wurde, bekam die VA den Auftrag dazu vom Ministerium für Volksbildung. Mit der Zeit wurde ein solcher Auftrag als willkommene Abwechslung und als Jux begrüßt. Der Unterricht fiel für eine Stunde aus, die Schüler hatten sich auf einem bestimmten Platz einzufinden, einer verteilte vorgefertigte Transparente mit Losungen, irgendwer stimmte eine Parole an, die Versammelten riefen die Parole im Chor nach und klatschten oder pfiffen je nach Aussage der Parole. Zeitungsleute und ein Filmteam machten Aufnahmen, und Minuten später war das Ganze vorbei. Wofür oder wogegen demonstriert wurde, erfuhren die Schüler meist erst am folgenden Tag aus der Zeitung oder aus der nächsten »Aktuelle Kamera« genannten Wochenschau.
Auf dem Hegelplatz hinter der Uni war eine Protestversammlung angekündigt, auf der ein Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland sprechen sollte. Ein Heinrich Graf von Zweisiedel, ehemals Offizier der Deutschen Wehrmacht, war in Westdeutschland zu Besuch gewesen und dort vorübergehend verhaftet worden.
Eben freigelassen und zurückgekehrt in die sowjetische Zone, hielt er eine Rede gegen den westdeutschen Militarismus und über die Vorzüge des Sozialismus. Er stand auf einem Podest neben dem Hegel-Denkmal, und sein vor Zorn gerötetes schmales Gesicht, die aristokratisch hohe Stirn mit den hervortretenden Zornesadern wirkten feierlich neben dem wuchtigen Kopf des Philosophen Hegel.
Die die Bevölkerung spielenden Schüler klatschten Beifall oder pfiffen, je nachdem, ob der Graf von den Vorzügen des Lebens in Ostdeutschland oder von den Schikanen der westdeutschen Polizei sprach. Zwei Tage später war Graf Heinrich nach Westdeutschland geflohen.
Christian erzählte Philipp, dass Lichtweiß, ihr Lehrer für Gegenwartskunde, auch ein Mitglied des Nationalkomitees gewesen sei. Schlank, blond und blauäugig, mit leicht knarrender Stimme, verkörperte Lehrer Lichtweiß ganz den Typ des deutschen Offiziers.
Sie sprachen ihn im Unterricht auf seine Mitgliedschaft im Nationalkomitee an. Lichtweiß erzählte ihnen, wie er, ein glühender Nationalsozialist und Ausbildungsoffizier, in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war: Das Leben im Lager war langweilig, denn als deutscher Offizier musste man nicht wie die gewöhnlichen Soldaten irgendwelche Arbeit leisten. Die Sowjets boten ihnen Vorträge über Marxismus an. Zuerst ging Lichtweiß nur mal hin, um die Zeit auszufüllen, dann aber überzeugte ihn die wissenschaftliche Theorie des Sozialismus. Er nutzte die Zeit zum Studium und besuchte die Antifaschistische Schule. Nach der Kapitulation war er einer der Ersten, die aus der Gefangenschaft entlassen wurden. Er hielt im Auftrag der Sowjetischen Militäradministration in der Ostzone Vorträge und wurde mit der Eröffnung der VA Lehrer. Lichtweiß zeigte einige Tage später im Unterricht einen Film über den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943. Es war ein Film aus polnischer Produktion, und er zeigte Szenen vom Leben im Ghetto, den Abtransport der Juden in die Vernichtungslager und den aussichtslosen Kampf der Verbliebenen bis zu ihrer Ermordung durch die Deutschen.
Philipp fand, dass der Film schlecht gemacht war. Die Darsteller der deutschen Offiziere sprachen wie Christian ein hartes Deutsch mit polnischem Akzent. Die Klasse war aber doch erschüttert über die Gewaltszenen gegen wehrlose Menschen und bangte mit den Widerstand leistenden Juden. In einer Szene sah man, wie deutsche Soldaten, nachdem sie schreckliche Verbrechen begangen hatten, in einen Hinterhalt gerieten: Sie liefen in einen Hof. Rundherum auf den Dächern waren die Widerstandskämpfer postiert. Auf ein Zeichen ihres Anführers schossen sie die Deutschen zusammen. Von einer Sekunde zur anderen lagen alle deutschen Soldaten tot in dem Hof. Einige Schüler applaudierten, auch Sophie. Philipp sah, dass auch Lichtweiß applaudierte.
Als der Film zu Ende war und das Licht im Klassenraum wieder anging, fragte Philipp den Lehrer.
»Warum haben Sie geklatscht?«
Der verstand nicht, und Philipp fragte erneut.
»Warum haben Sie geklatscht, als die deutschen Soldaten zusammengeschossen wurden?«
In der Klasse wurde es still.
Lichtweiß schwieg, er machte ein ernstes Gesicht.
»Ich verstehe Sie, aber die Szene war so befreiend. Ich musste einfach applaudieren.«
Philipp gab keine Ruhe.
»Sie waren Offizier, haben Rekruten ausgebildet, die anschließend an die Front geschickt wurden, und dann klatschen Sie, wenn diese zusammengeschossen werden!«
Plötzlich war die Stille in der Klasse vorbei und alle redeten durcheinander.
»Das waren doch Faschisten!«, rief Sophie.
»Es waren Menschen!«, meinte ein anderer.
Lichtweiß hob die Hände und bat um Ruhe.
»Sie haben Recht, ich durfte nicht applaudieren. Alle in der Klasse durften, ich durfte nicht.«
Dann wandte er sich direkt an Philipp.
»Vielleicht, Herr Siebert, bleiben Sie nach dem Unterricht noch einen Moment hier; ich möchte Sie gerne allein sprechen.«
»Da hast du den Salat, jetzt haut er dich in die Pfanne, du − du − du deutscher Held!«, zischte Christian.
»Nachzutragen bleibt noch«, sagte Lichtweiß zur Klasse, »dass vor Ausbruch des Aufstandes schon 300.000 Juden in die Vernichtungslager abtransportiert worden waren. Von den restlichen 60.000, die Widerstand leisteten, wurden in solchen Häuserkämpfen, wie wir sie eben gesehen haben, an die 50.000 getötet.«
Die Stunde war beendet, die Klasse leerte sich. Allein mit Philipp, berichtete Lehrer Lichtweiß aus seinem Leben: Als Kind sah er, wie sein Vater, ein Bäckermeister, jeden Morgen um drei Uhr früh aufstehen musste und wie schwer seine Mutter mitarbeitete und den Kunden nach dem Mund redete, damit sie mit ihrer kleinen Dorfbäckerei gerade mal so über die Runden kamen. An den Nachmittagen, wenn der Junge seinen Schulpflichten nachgekommen war und die Eltern gebraucht hätte, schlief sein Vater, und die Mutter durfte im Laden nicht gestört werden. So wurden ihm das Jungvolk und später die Hitlerjugend Ersatz für Familie und Elternhaus. Bei Ausbruch des Krieges war er siebzehn Jahre alt und durch die Erziehung in Oberschule und Hitlerjugend begeistert für die Ideale des Nationalsozialismus; sofort nach dem Abitur meldete er sich freiwillig. Er wollte in einer großen Zeit Großes leisten. Seine Karriere verlief folgerichtig. Bald war er einer der jüngsten Offiziere der Wehrmacht und verstand es, die ihm zur Ausbildung anvertrauten jungen Menschen