ihre Schultern und ihre kleinen Brüste. Sie legte sich ins Bett und sah zu, wie Philipp sich auszog und dazulegte. Eine Weile lagen sie reglos nebeneinander. Man hörte nur das Geräusch der Luftbrücken-Maschinen. Philipp streichelte Sophies Haar, ihre Stirn und ihre Wangen. Sie schaute gegen die Zimmerdecke und begann still zu weinen.
Zum 21. Dezember, dem Geburtstag von Stalin, vergab Lichtweiß ein Referat. Es sollte Stalin und die Deutschen behandeln. Sophie meldete sich freiwillig.
Als sie den Vortrag begann, kündigte sie ihn an mit dem Titel: Josef Stalin, der weise Führer des internationalen Proletariats, der Garant des Weltfriedens und der beste Freund des deutschen Volkes. Sie sprach vom größten Schüler Lenins, von Stalins Vollendung der Revolution durch die Säuberung der Partei und der Armee von Spionen und Feinden und von deren Liquidierung. Sie sprach davon, dass Stalin als Führer der ruhmreichen Sowjetarmee den Faschismus besiegt und dem deutschen Volk die Freiheit gebracht habe. Von dem größten Genius der Menschheit sprach sie und davon, dass in seinem Arbeitszimmer im Kreml das Licht nie ausginge.
»Er soll sich nächtelang westliche Cowboy- und Operettenfilme anschauen«, flüsterte Christian Philipp zu. Zuletzt machte Sophie den Vorschlag, man solle doch wegen der großen Verdienste Stalins nicht nur vom Marxismus-Leninismus, sondern vom Marxismus-Leninismus-Stalinismus reden.
»Dann darf man aber auch Engels nicht vergessen«, sagte einer.
»Und Pieck!«, rief Philipp. »Es muss dann heißen: Marxismus-Engelismus-Leninismus-Stalinismus-Pieckismus.«
Die Klasse schwieg, Lichtweiß schaute einen Moment ratlos.
»Das war sicher ein Scherz von Herrn Siebert«, sagte er dann. »Wenn man allerdings die Sache ernsthaft diskutiert, wird man sagen müssen, das ist eine Frage an die Historiker. Ich persönlich glaube aber fest, dass das Lebenswerk Stalins einmal als Stalinismus bezeichnet wird.«
Philipp sah, dass Sophie eifrig nickte. Da war plötzlich seine Wut verflogen, und er fühlte nur noch Mitleid.
Am vorderen Tisch der mittleren Reihe saß Ruth. Sie war etwas füllig, hatte hinter langen Wimpern kecke braune Augen, mit denen sie gewollt naiv schauen konnte, hatte leicht gewelltes braunes Haar, starke Backenknochen und sehr üppige Lippen, die sie stets mit einem kräftigen Rot angemalt zeigte. Sie sprach mit eher leiser und ein wenig gehauchter Stimme. Ihre Bewegungen, ihr wiegender Gang, alles an ihr signalisierte Sinnlichkeit.
Christian und Philipp, die weiter hinten an einem Tisch in der Reihe an der Fensterfront saßen, mussten, wenn sie aufmerksam dem Dozenten am Pult oder an der Tafel folgen wollten oder auch nur so taten, an Ruth vorbeischauen und hatten sie als Zugabe im Blick, genauer: ihren Oberkörper; noch genauer: ihren großen Busen. Ruth war Berlinerin, die Tochter eines Kommunisten und Revolverdrehers bei Siemens & Halske. Ihre Mutter war Funktionärin im Demokratischen Frauenbund Deutschland DFD. Ruth hat nach dem Krieg einen Kurs zur Ausbildung als Neulehrerin besucht und war bis zum Eintritt in die VA Lehrerin.
»Die leg ich um«, sagte Christian schon an einem der ersten Unterrichtstage zu Philipp und schaute dabei genüsslich zu Ruth herüber. Aber Ruth war mit einem Lehrer ihrer früheren Schule befreundet, und Christians Werben war erfolglos, sie beachtete ihn kaum − bis zur Weihnachtsfeier.
Währen der Vorbereitung zu dieser Feier hatte Angela die Idee, einen Julklapp zu veranstalten, wie er zu Weihnachten in den skandinavischen Ländern üblich war. Alle sollten ein Los mit dem Namen eines Klassenmitgliedes ziehen, ein kleines Geschenk besorgen, das dann verpackt und mit dem Namen des zu Beschenkenden versehen eingesammelt und auf der Feier von einem Weihnachtsengel verteilt werde. Der Absender aber bliebe anonym.
So geschah es. Man sang Lieder von der stillen Nacht, vom grünen Tannenbaum und von den kommenden Kinderlein. Einige sangen nicht mit, weil sie es bürgerlich-dekadent fanden. Sophie sang nicht, weil sie die Lieder nicht konnte.
Christian begleitete den Gesang auf dem Klavier und spielte anschließend mit weit ausholenden Gesten noch den ersten Satz der Beethovensonate Pathétique.
Dann trat der Engel auf mit einem Sack voller Geschenke. Alle bekamen eins, Christian bekam drei. Er tat sehr überrascht und erfreut. Nach der Feier erlaubte Ruth, dass Christian sie begleitete. Sie machte den Vorschlag, in die Gartenlaube ihrer Eltern zu fahren. Die Gartenlaube war wohnlich eingerichtet, aber ungemütlich kalt. Sie gingen sofort ins Bett.
»Sprich mit mir!«, bat Ruth.
»Später«, sagte Christian und liebte sie.
Dann schaute er sich vom Bett aus in der Laube um.
»Kommen deine Eltern oft hierher?«
»Nein, jetzt im Winter gar nicht mehr«, sagte Ruth. »Bis vor einem Jahr haben wir hier gewohnt. Wir waren ausgebombt. Jetzt haben wir wieder eine Wohnung.«
»Kann man den Ofen heizen?«
»Ja, aber wir heizen ihn nicht. Die Briketts brauchen wir für die Wohnung.«
»Ich besorge uns welche.«
Er lehnte sich zurück, dachte, dass es doch noch eine schöne Feier geworden war, dass er nun wusste, wo er sich in den Weihnachtsferien aufhalten konnte, und schlief ein.
Nach Schulbeginn im neuen Jahr erzählte Christian, dass er vor der Weihnachtsfeier genau bedacht habe, bei sechs Mädchen in der Klasse und einem sicheren Geschenk für ihn über das Los höchstens fünf Geschenke mit dem eigenen Namen zusätzlich heimlich in den Sack zu schmuggeln. Er wollte aber nicht übertreiben und hatte nur zwei hineingegeben. Die Unsicherheit aber war, dass er nicht wissen konnte, ob nicht eines oder mehrere der Mädchen ihm tatsächlich zusätzlich ein Geschenk machen würden.
»Die Gefahr bestand wohl nicht«, meinte Philipp.
Das Frühjahr kam, die Tage wurden länger und milder. Christian und Philipp gingen an den Nachmittagen weiter regelmäßig zur Singakademie. Sophie kam nicht mehr mit, dafür machte Ruth jetzt öfter mit ihnen zusammen Schularbeiten. Einmal fuhren sie anschließend mit Ruth in die Laube. Christian hatte Wein besorgt und auch Kerzen. Sie tranken von dem Wein und schauten in die Flammen der Kerzen.
Ruth erzählte von ihrem Vater, der im Konzentrationslager gewesen war, aber schon während des Krieges entlassen worden und seitdem sehr schweigsam sei. Ihre Mutter wäre ganz verzweifelt; sie könne nicht verstehen, dass ein Mann so wenig Lebensmut zeigte, jetzt, wo er am Aufbau des Sozialismus mitwirken konnte. Christian erzählte, wie er und seine Mutter von der Erschießung seines Vaters durch die Russen erfahren haben und wie seine Mutter sich bald danach mit einem deutschen Besatzungsoffizier getröstet habe.
»Ich denke, es waren die Nazis, die deinen Vater umgebracht haben«, bemerkte Philipp.
»Ach Philipp!«, sagte Christian, und seine Stimme klang liebevoll-väterlich. Dann wandte er sich an Ruth.
»Gib Philipp mal einen Kuss!«
Ruth schaute Christian erstaunt an, zögerte einen Moment, setzte sich auf Philipps Schoß, umschlang ihn mit beiden Armen und küsste ihn. Dann stand sie auf, ging auf ihren Platz zurück und trank ihr Weinglas in einem Zug leer.
An einem Abend, sie hatten in der Singakademie lange Zeit für die Schularbeiten gebraucht, machte Christian den Vorschlag, in einem guten Restaurant essen zu gehen.
»Oh ja!«, sagte Philipp, »wenn ich einmal Millionär bin oder Parteifunktionär, dann machen wir das wirklich.«
»Wir machen es heute; ich lade euch ein«, tat Christian groß.
»Ich habe meine Fleischmarken nicht dabei«, bedauerte Ruth.
»Du brauchst keine Marken. Am Bahnhof Friedrichstraße ist ein HO-Restaurant, da kann man ohne Marken essen.«
»Was ist ein HO-Restaurant?«, fragte Ruth.
»Das ist neu, HO heißt Handelsorganisation«, erklärte Philipp, »das ist was Staatliches, dort kann man alles ohne Marken kaufen, aber für viel Geld.« Und zu Christian sagte er: »Hast du eine Bank überfallen?«