erklären können.«
»Wie Ordeich?«
»Wie Ordeich!«
Der Chemieunterricht war beliebt. Die Experimente waren zwar aufwändig, aber sie fesselten die Schüler und brachten Dr. Kuhnert den Ruf des besten Dozenten in der VA ein.
Philipp profitierte durch seine Assistententätigkeit von dem Ruhm und galt in der Klasse bald als Experte im Fach Chemie. Das zwang ihn dazu, in der Singakademie und zusätzlich noch zu Hause besonders fleißig die Hausaufgaben zu erledigen, um seinen guten Ruf nicht zu gefährden.
Ruth bewunderte Philipp und jedes gelungene Experiment, an dessen erfolgreichen Ausgang er mitgewirkt hatte. Sie freute sich auf die Chemiestunden und auf die Zeit, in der Philipp neben ihr saß.
»Bleib doch in den anderen Stunden auch hier sitzen«, bat sie.
Aber Philipp wollte es Christian nicht antun, dass Inge mehr als nötig an dessen Seite verweilen musste. Er wusste, wie sehr dieser das Ende der Stunde herbeiwünschte, um die »Jungfrau« − wie er Inge nannte − wieder loszuwerden.
»Stell dir vor«, sagte Christian nach einer Chemiestunde, »die ›Jungfrau‹ hat mir eben unter dem Siegel größter Verschwiegenheit erzählt, der Ordeich würde sie erpressen, und sie müsse es in den Nachhilfestunden in seiner Wohnung mit ihm treiben.«
»Der Ordeich hat eine Frau und Kinder, das fiele doch auf.«
»Hab ich auch gesagt. Aber sie erzählte mir, die Frau habe absolutes Zutrittsverbot und den Auftrag, in der Zeit der Nachhilfe niemanden in das Zimmer zu lassen.«
Philipp grinste.
»Dem Ordeich wäre das zuzutrauen. Er vögelt eine Achtzehnjährige, und seine Frau muss während dieser Zeit die Tür zuhalten.«
»Ach was, ist doch Blödsinn! Die ›Jungfrau‹ ist hysterisch und will sich nur interessant machen.«
Damit war für Christian die Sache erledigt. Philipp bekam Zweifel. Er bat Ruth, möglichst diplomatisch bei Inge zu sondieren. Inge aber war sehr verschlossen und verriet sich mit keinem Wort. Nach einigen Versuchen gab Ruth es auf. Philipp und sie beschränkten sich darauf, Ordeich und Inge zu beobachten. Zuerst bemerkten sie nichts, dann aber registrierten sie, dass Inge nicht nur in Mathe, sondern auch in den anderen Fächern nachließ und schlechte Zensuren bekam. Die Dozenten taten verwundert und richteten aufmunternde Worte an sie, beließen es aber dabei.
Da ergriff Ruth die Initiative. Während Philipp, Christian und sie über ihren Schularbeiten saßen, machte sie den Vorschlag, der Sache mit Inge auf den Grund zu gehen. Sie sollten in einer Nachhilfestunde bei Ordeichs zu Hause aufkreuzen, sich von der Frau nicht abweisen lassen und in das Zimmer stürmen. Dann werde man ja sehen.
»Eine blöde Idee«, sagte Christian. »Was machst du, wenn sie Mathe machen und sonst nichts?«
»Dann lassen wir uns eine komplizierte Aufgabe erklären«, versuchte Ruth ihn zu überzeugen.
»Das glaubt der mir nie, außerdem weiß dann Inge, dass ich gequatscht habe.«
»Da hat er Recht«, warf Philipp ein, »uns beiden glaubt man auch eher, dass wir Schwierigkeiten in Mathe haben.«
»Also gehen nur wir zwei hin«, sagte Ruth.
Und so machten sie es. An einem schönen Sommernachmittag gingen sie los, suchten die Straße und das Haus. Auf der Hinweistafel im Hausflur fanden sie den Namen angezeigt. Sie stiegen die Treppen hoch und drehten die Klingel. Als Frau Ordeich öffnete, grüßten sie kurz, drängten sich an ihr vorbei in die Wohnung und fragten nach ihrem Mann. Und richtig, Frau Ordeich stellte sich vor eine Zimmertür und gab den Eindringlingen zu verstehen, dass der jetzt nicht gestört werden dürfe. Ruth schob die Frau zur Seite und stürmte ins Zimmer, Philipp hinterher. Da saßen Ordeich und Inge sich gegenüber und weit entfernt voneinander an einem Tisch. Er diktierte ihr gerade eine Aufgabe. Nun sprang er auf.
»Nein so was! Das ist ja mal eine nette Überraschung! Kommen Sie, setzen Sie sich! Marlene, mach uns einen Kräutertee!«
»Wir möchten − wir dachten − wir können nicht − eine schwere Aufgabe ...«, stammelten Philipp und Ruth.
»Schön, schön, aber das hat doch Zeit«, sagte Ordeich. »Wir sind dankbar für jede Unterbrechung, nicht wahr?«
Dabei schaute er Inge an, und es war nichts von Verlegenheit oder Verwirrung an ihm zu spüren. Inge aber war über und über rot geworden und starrte auf die Tischplatte. Sie ahnte wohl, was hier vorging. Man setzte sich, sprach über den schönen Sommer, über das zerstörte Berlin und dass es doch täglich aufwärts ginge mit der Versorgung der Menschen. Ordeich lobte die Regierung der DDR, die Einrichtung der VA und meinte, dass es eine große Chance für Arbeiter- und Bauernkinder sei, jetzt studieren zu können, und dass folgerichtig die VA ab dem 1. Oktober Arbeiter- und Bauernfakultät, kurz: ABF, heißen werde.
»So wird eine neue Intelligenz geschaffen, mit der man dann den Sozialismus aufbauen kann. Und was die Mathematik betrifft, das gibt es einfach nicht, dass einige dafür mehr, andere weniger begabt sind. Der Mensch ist ein Produkt seiner Verhältnisse, und wer lernt, der wird auch ein guter Mathematiker. Auch wenn man mal eine Phase hat, in der es nicht so klappt. Das kriegen wir schon wieder hin, nicht wahr, Fräulein Schüller?«
Dabei schaute er Inge an. Die nickte nur. Sie tranken den Tee. Ordeich erzählte, dass sie ihn selber sammelten und dass er und seine Frau schon immer für eine gesunde und einfache Lebensweise waren, auch schon, als es noch genügend zu kaufen gab. Er löste und erklärte die mitgebrachte Aufgabe, gab sich ganz ohne Misstrauen und verabschiedete seine Gäste endlich mit vielen guten Ratschlägen für das weitere Studium.
»Entweder ist er ein ganz abgebrühter, eiskalter Hund, oder die Inge hat geflunkert«, sagte Philipp auf dem Heimweg.
»Ich glaube fast, Christian hat Recht, die Kleine ist hysterisch und wollte sich vor ihm nur interessant machen«, meinte Ruth.
Am nächsten Tag kam Inge nicht zum Unterricht. Auch zu Beginn der Geographiestunde am übernächsten Tag war sie noch nicht erschienen. Dann klopfte es. Köhler brachte seinen Zeigestock in Schussposition und watschelte in Richtung Tür. Aber es waren keine Zuspätkommer, sondern zwei unbekannte Männer, die darum baten stören zu dürfen. Mit ihnen kam Reitmann in die Klasse. Er stellte die Männer als Kriminalbeamte vor.
»Wo ist der Platz von Inge Schüller?«
Ruth deutete auf den Stuhl neben sich.
»Hier!«
»Ist Ihnen oder sonst jemandem in letzter Zeit irgendetwas am Verhalten von Fräulein Schüller aufgefallen?« fragte der ältere Beamte.
»Nein, nichts«, sagte Ruth, und auch die anderen in der Klasse schüttelten die Köpfe.
»Ihre Leistungen, die haben nachgelassen, jawohl, nachgelassen«, meldete sich Köhler auf seinem Stock gestützt. »Aber das wird schon wieder, wird schon wieder, und in Geographie, da ist sie noch ganz gut, ganz gut ist sie da noch.«
»Fräulein Schüller ist gestern an einer Überdosis Tabletten gestorben«, sagte der Beamte.
Nach dem Unterricht ging Christian in den Musikraum und spielte den ersten Satz der Pathétique-Sonate. Philipp und Ruth folgten ihm. Als er fertig war, bat Ruth sie beide, mit rauszufahren und spazieren zu gehen. In der S-Bahn schwiegen sie, und auch auf dem Strandweg am Müggelsee redeten sie nicht über Inge.
»Lasst uns schwimmen«, sagte Christian plötzlich.
»Ohne Badeanzug?«, fragte Ruth.
»Na klar, hier ist doch kein Mensch.«
»Gut, gehen wir schwimmen«, sagte Philipp.
Sie fanden eine geschützte Stelle, entkleideten sich und stiegen ins Wasser. Am Anfang schwammen sie ruhig hintereinander in Richtung Seemitte, zuerst Christian, dann Philipp und als letzte weitab Ruth. Plötzlich tauchte